Wiegenlied Roman
Umstände ermöglichten es, die Anwendung zumindest einer von Finlays aus Schweden übermittelten Maßnahmen durchzusetzen. Gemeinsam mit Waschfrauen und Mägden der Charité schuftete sich Helene mit der Pusche den Rücken krumm, um verdorbene Rosshaarmatratzen auszuwechseln, die Bettstellen sorgfältigsten Essigwaschungen zu unterziehen, Wände mit Kalk zu bestreichen und die Zimmer unter schlimmsten Hustenaffekten auszuräuchern.
Es war niederschmetternd für alle, dass dies nicht das Geringste am höchst akuten Verlauf des Fiebers änderte.
Und als wäre nicht alles schon verheerend genug, wanderten und brannten indessen die verschwörerischen Billetts zwischen der Fremden und Helene, auf den Weg gebracht durch Hermine von Helmer, die irgendwann im Laufe der atemraubenden Wochen und Tage zumindest andeutungsweise ins Bild gesetzt worden sein musste, denn es fanden sich zunehmend Wendungen wie »meine junge Vertraute schlägt vor …« in den Schreiben.
Über Elsa hatten sie sich geeinigt. Je weniger sie wusste, umso mehr würde es sie im grauenhaftesten aller denkbaren Szenarien schützen.
Das immerhin beruhigte Helene.
Die Idee, den Tag des euphorisch erwarteten Paganini-Konzerts für die Geburt des Kindes zu wählen, war grandios. Helene vermutete, dass dies dem offenbar ganz und gar feurigen Planungseifer Hermine von Helmers und deren Neigung zu fantastischen Romanen entsprungen war. Finlay würde sie ebenso belügen müssen wie Elsa und ihren Vater, der tatsächlich Karten für Paganini ergattert hatte. (Oder war es Hähnlein gewesen, der für alle gesorgt hatte? Wie erschreckend, dass es ihr entfallen war!)
Während Helene das Portal der Charité durcheilte und ungeachtet aller Benimmregeln mit gerafften Röcken die Treppen hinaufrannte, entschloss sie sich, allein in dieser Sache Elsa um Rat zu bitten. Es würde ihrer Schwester größtes Vergnügen bereiten, einen entlegenen Ort für ein erstes Rendezvous zu empfehlen. Dafür würde Helene bereit sein zu gestehen, wie sehr ihr Finlays Ungeduld, die aus jeder
Zeile seines hastig hingeworfenen Schreibens zu lesen war, das Herz bis zum Hals schlagen ließ.
Es war nicht auszumachen, mit wem er sprach. War es Wittgenstein? Bischof Eylert? Großherzog von Strelitz? Die Zurückhaltung des Zuhörers machte es ihm unmöglich, seine Stimme zu erkennen.
Im Grunde jedoch war es gleichgültig.
Er stand zwischen zwei Pastellbildnissen Luises im kleinen Bibliothekszimmer, sein Ohr verschmolz nahezu mit der tapezierten Wand, die ihn vom König und dessen Vertrauten trennte.
Dass sie ihm unstreitig Opfer brachte, hörte er ihn sagen. Wie schwierig es für sie sein musste, das Los eines alten Mannes zu teilen, der ihr Vater sein könnte und der zudem so viel Bitteres erfahren hatte. Wie sie durch die Vermählung mit ihm aus einem zurückgezogenen, bescheidenen Dresdner Leben in das geräuschvolle Treiben des preußischen Hofes gezogen worden war.
»Sie ist meine Gemahlin und doch keine Königin«, hörte er den Monarchen sagen. »Bevor sie mich heiratete, bat ich sie inständig, sich vor Gott und ihrem Gewissen zu prüfen, ob sie auf sich nehmen wollte, was ich ihr abverlangte. Ich bot ihr an, sie freizugeben, damit sie ganz nach ihrer Neigung einen anderen heiraten könnte.«
Es folgte ein Schweigen, das die Schwere eines Seufzens in sich barg.
»Ihre Antwort war, dass sie durch meine Bitte nur noch mehr in ihrem Beschluss gefestigt sei. Sie liebe mich von
ganzem Herzen, schrieb sie, und sie wolle nichts, als mich glücklich machen.«
Versündigte er sich gegen die Natur, indem er sie unberührt ließ?
Die leise Antwort des Vertrauten war nicht zu verstehen.
»Sie sollte Kinder haben, sie sollte Mutter sein. Ich kann mich nicht einmal schämen zu sagen, dass ich es nicht fertigbringe. Und doch fehlt es mir an Gleichmut, ihr abzuschlagen, was sie sich so sehnlich wünscht. Sie wird als Knospe vertrocknen, ohne jemals erblüht zu sein.«
Seltsam.
Er lauschte den Worten des Königs nach. Was dieser Mann so alles bedachte, was ihn quälte, das war ungeheuerlich und dabei erschreckend banal. Hatte die Person ihn mit ihrer Gewöhnlichkeit womöglich schon infiziert? Drohte das Göttliche seiner Verbindung mit Luise abzublättern wie von heftigem Regen verwaschener Putz?
Er meinte jetzt ein wirkliches, abschließendes Seufzen zu hören, bevor die Türen gingen und die Schritte zweier Männer sich im Gleichtakt entfernten.
Was er gehört hatte, bereitete ihm
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