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Wiegenlied Roman

Titel: Wiegenlied Roman Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Kerstin Cantz
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Widerwillen. Keinesfalls wollte er Mitgefühl für die Schwäche des Monarchen bezüglich der Unaussprechlichen empfinden. Noch während er die Tapetentür öffnete und sich auf den einsamen Weg durch die Labyrinthe der Dienerschaft machte, zerrte er ihr letztes Handbillett aus der Brusttasche seiner Livree, obwohl er es auswendig kannte.
    Die Briefe hatten zu ihrer grotesken Inhaltsleere zurückgefunden. In ihren Schreiben an die Freundin Kaninchen bat sie um Batist aus einer Dresdner Manufaktur. Sie wollte jetzt sticken, da sie entzückende Motivvorlagen in einem
Berliner Geschäft gefunden hatte. Die Tapisserie war ihr über. Sie stellte ihrer Freundin ein handgefertigtes Brusttuch in Aussicht. Von Fusselkörbchen keine Rede mehr.
    Sie wollte Marienkäferchen in roter Seide und in goldener Chenille.
    Wusstest du, mein Kaninchen, dass die Engländer glauben, dass wenn ein Marienkäfer auf deiner Hand die Flügel ausbreitet, dies bedeutet, dass du neue Handschuhe bekommen wirst, und wenn er auf deinem Kopf landet, dir ein neuer Hut gewiss ist?
    Sie schrieb nun doch auch von Paganini, immerhin. Wie ganz Berlin dem Konzert des Italieners entgegenfieberte, wie man sich um Karten nahezu schlug und die letzten an den pommerschen Adel gegangen waren. Wie man sich sorgte, den Virtuosen sicher ins Hotel und zur Oper schaffen zu können, nachdem er bei seinem Besuch in Wien von den Verzückten beinahe aus der Kutsche gezerrt worden war. Ihr selbst, schrieb sie, sei der Mann unheimlich. Den Abbildungen seiner Person, die es derzeit von ihm in allen Zeitungen zu sehen gab, entströme beängstigende Düsternis.
    Über ihn würde sie sich vermutlich ähnlich äußern.
    Während er seine Schlafkammer erreichte und die flackernde Kerze auf dem Nachttisch abstellte, wo ein jungfräuliches Fläschchen Laudanum auf ihn wartete sowie sein neuerdings persönliches, von Hufeland erhaltenes Aderlassmesser - der es ihm ohne inquisitorische Fragen einfach überlassen hatte -, kam ihm die junge Hermine von Helmer in den Sinn. Sie erinnerte ihn an die Frau seines ersten Hauslehrers.
    Er ließ sich auf dem Bett nieder und gestattete sich, in seiner unendlichen Erschöpfung die Beine hochzulegen, ohne die Schuhe abzustreifen.

    Wenn er es, wie jetzt, zulassen konnte, weit zurückzudenken, was unter dem Einfluss des Laudanums oder im Zuge eines Aderlasses häufiger geschah als üblich, dann war es möglich, dass er unverhofft auf eine Empfindung traf, die sich wie ein Schattengewächs in ihm am Leben gehalten hatte.
    So etwa glaubte er in ebendiesem Moment, dass Sophie Lange, die junge Frau seines Lehrers, der erste Mensch gewesen war, der ihn an die Hand genommen hatte (wobei seine Erinnerung eine Reihe von Gouvernanten unterschlug). Damals, als er sich glücklich an Sophies Seite befand, war er sechs Jahre alt. Sie liebte die Natur und nutzte jede Gelegenheit, sich im Wald aufzuhalten.
    Während er sich für einen Aderlass entschied, den er inzwischen wie beiläufig anzusetzen wusste, geriet ihm das Bild eines jungen Rehbocks in Erinnerung, vor dessen Anblick Sophie ihn an einem Tag im Mai hatte schützen wollen. Unvermutet waren sie damals, vor so unendlich langen Jahren, Zeugen seiner Tötung durch einen Jäger seines Vaters geworden. Er, der kleine Junge, hatte sich an jenem Tag von ihrer Hand losgemacht und war durch das sattgrüne Frühlingsgras gerannt, bis zu der Stelle auf der Lichtung, wo das Tier zusammengebrochen war.
    Der Schuss hatte die Flanke des Einjährigen zerfetzt, er konnte durch das purpurrote Muskelfleisch bis auf den Knochen sehen. Vor allem jedoch hatte sein kindliches Gemüt die unschuldige Schönheit des erloschenen Antlitzes gerührt, der gebrochene Glanz in den Augen des Rehs, das leicht geöffnete Maul mit den zierlich flachen Zähnen, die noch Momente zuvor leuchtend gelbe Dotterblumen gezupft hatten.

    Er beendete den Blutfluss. Im Kerzenlicht machte es den Eindruck, als wäre Tinte aus seinen Adern in die Schüssel geflossen.
    Kaninchen. Das Brusttuch bestickt mit fliegenden Marienkäfern. Nein, nein, er täuschte sich nicht.
    Nie und nimmer.
    Sie hatte einen Geliebten. Und von Helmer war ihre Postillonne d’amour .

    Elsa wusste die Freitreppe der Königlichen Oper mit einer kaum zu übertreffenden Grandezza emporzuschweben. In der unfreundlichen Kälte des windstillen Novemberabends, der sie eilends ins Innere des Hauses zu entkommen suchte, wirkte sie unter den anderen Besuchern wie ein schwerelos

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