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Wiegenlied Roman

Titel: Wiegenlied Roman Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Kerstin Cantz
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sich ihrer nicht entziehen.
    Wie seltsam, dass er plötzlich dachte, wie es wohl wäre, Sidonie sein Herz auszuschütten. Es musste am Rum liegen.
    Tatsächlich lag die Wahrheit ganz woanders. Denn Friedo - doch das verstand er bis zum Ende nicht - war für eine galante Karriere weniger geschaffen, als er dachte.

    Hamburg, 7. November 1828
     
    Meine liebste Freundin! (Ich bin maßlos, doch ich hoffe, Sie können mir verzeihen …)
    Es hat mich unendlich glücklich gemacht, dass mich wiederzusehen Ihnen offenbar Freude bereiten könnte. Es ist ein so unerwartetes Privileg, Ihrer Offenheit, der Geradlinigkeit Ihrer Gedanken teilhaftig zu werden, ich kann es kaum fassen. Daher nur kurz (um nicht unangemessen schwülstig zu werden) die wichtigsten Mitteilungen in wenigen Worten:
    Ankomme am elften November am frühen Nachmittag.
    Logiere im Schwarzen Adler.
    Wie gern hätte ich Sie in das Paganini-Konzert eingeladen, allein, es war nicht einmal mehr ein einziges Billett zu bekommen (für das ich Sie unter meinem Mantel versteckt hätte, um dem Ganzen als eine Person beizuwohnen). Oder gehen Sie ohnehin? Mit Ihrem Vater und Ihrer Schwester möglicherweise? Dann werde ich den Abend Unter den Linden verstreichen lassen und mich gedulden, ohne Sie sofort zu sehen.
    Wie auch immer, liebste Freundin: Nennen Sie mir Zeit und Ort.
    Ich werde da sein.
    Ihr ergebenster
    Finlay Gordon
    Helenes Gedanken rasten, während sie, in ihr Umschlagtuch gewickelt, am Feldrand hinter der Charité entlanglief. Der Pfad, dem sie in der Morgendämmerung nahezu blind folgte, um sich in der kalten Luft zu sortieren,
war von ersten Bodenfrösten gehärtet und mit Raureif überzogen.
    Vor einer Stunde war Oskar mit Finlays Brief aufgetaucht. Die mit Stroh ausgestopften Holzschuhe des Jungen hatten sie bewogen, ihn mit unnachgiebiger Strenge auf dem Gang vor der Gebärabteilung warten zu lassen, bis sie von ihrem schläfrigen Vater zwei Taler geliehen hatte.
    »Geh dir Stiefel kaufen«, sagte sie zu Oskar. »Heute noch! Keine Ausflüchte, mein Freund, ich will beim nächsten Mal ernst zu nehmende Schuhe an deinen Füßen sehen, haben wir uns verstanden?«
    Oskar hatte stumm genickt und keinen Widerstand geleistet, da ihm die Rituale feinsinniger Höflichkeit zum Glück unbekannt waren.
    Nach einer kurzen Aufwallung heftiger Freude - als sie den Absender auf dem gefalteten Brief erkannte - brach in Helene eine Flut beängstigender Fragen und widersprüchlicher Antworten los, ein aufwühlender Disput darüber, was Finlay, dieser wundervolle Mensch, wohl tun würde, wenn er wüsste, was sich für den Abend des Paganini-Konzertes, an dem er eintreffen würde, in Planung befand.
    Ob er sie verachten würde? Sich für immer tief enttäuscht von ihr abwenden? Ihren Vater in Kenntnis setzen? Hähnlein und ihre anderen Lehrer? Seltsamerweise hielt sie dergleichen für vollkommen ausgeschlossen. Tatsächlich konnte sie sich viel eher vorstellen, dass er versuchen würde, ihre Seele zu retten und gleichsam ihre Integrität jungfräulich zu erhalten. Er würde wohl, wüsste er auch nur das Geringste, versuchen, sie von alledem fernzuhalten.
    Das glaubte sie, während die vorwinterliche Kälte ihr durch die dünnen Ledersohlen der Schnürschuhe drang.

    Sie musste zurück.
    Ihrem Vater hatte sie versprochen, in seiner Wohnung mindestens vier Stunden zu schlafen und in seiner Gegenwart eine warme Mahlzeit einzunehmen, bevor er gestatten würde, sie weiter Dienst tun zu lassen. Hähnlein und Novak nahmen die väterlichen Entscheidungen über Helenes Verwendung in der Gebärabteilung mehr dankbar als kritisch hin, zumal ihr akademischer Unterricht gleichsam mit dem klinischen der Studenten ruhte, seit das Kindbettfieber in der Charité epidemische Ausmaße angenommen hatte.
    Trotz aller Sorgfalt, was das Lüften und die Reinlichkeit der Zimmer anging, nahm die Krankheit einen zunehmend bösartigen Charakter an. Sie hatten sogar versucht, einzelne Zimmer leer stehen zu lassen, damit die tödlichen Miasmen weichen konnten, doch nichts brachte den ersehnten Effekt. Man war sich einig, dass die besondere, äußerst ungesunde Atmosphäre eines Hospitals schädlichste Einflüsse beförderte, die durch das Zusammenlegen von zu vielen Schwangeren und Wöchnerinnen, durch die häufigen Schweiße, das Ausatmen von Unreinigkeiten, durch Blähungen, übel riechende Körperflüssigkeiten, verschmutzte Kleidungsstücke und Betten so gut wie gar nicht zu verhindern war.
    Diese

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