Wiegenlied Roman
Plan in Sidonies Haus durchzuführen, und die Herfahrt hatte sich in einer aufwendigen Scharade mit Kutschenwechseln und einer mit Fräulein von Helmer wartenden Mietdroschke vollzogen.
Als diese in Begleitung der Fremden eintraf, die das Haus wie eine schwarz verhüllte Witwe betrat, war ihr die Abenteuerlust noch aus jeder feinen Pore ihrer Pfirsichhaut gedrungen. Die Einfachheit des Hauses, Sidonie und ihr Kind, die Wiege, ja selbst das Herdfeuer nahm sie mit allergrößtem Interesse zur Kenntnis, was Helene unvermittelt von einer Sorge befreite. Sie war Fräulein von Helmer dankbar, so wie für alles andere, was sie bisher zuverlässig und diskret erledigt hatte.
Viel zu spät nämlich hatte Helene angefangen darüber nachzudenken, wo eigentlich Sidonie sich aufhalten sollte, wenn sie das Kind der Fremden in der erhofften Zügigkeit auf die Welt befördern würde. Alles, was Sidonie persönlich in Betracht gezogen hätte, kam nicht infrage. Der einsilbigen Antworten Helenes überdrüssig, schlug ihre Neugierde in beleidigten Eigensinn um. Sie verlegte sich darauf, das betriebsame Tun im Haus störrisch und stumm zu beobachten. Wie schwer es ihr gefallen sein musste, sich jegliches Nachbohren zu verkneifen, als Helene unter den Deckenbalken der bislang unbenutzten oberen Kammer, halsbrecherisch auf einem Schemel balancierend, zwei Nägel einschlug und eine Hanfleine spannte, um mit einem Laken einen Vorhang zu improvisieren. Und dieses Bett mit seinen erstaunlich vielen Kissen, die Helene von Friederike Köpke erbeten hatte - es musste weitere drängende Fragen aufgeworfen haben, die nicht gestellt wurden.
So wusste Sidonie lediglich, dass sie die Amme eines unehelich geborenen Kindes sein würde. Was Hermine von Helmer wusste, war Helene vollkommen unklar, und sie ersparte es sich, darüber nachzudenken, ob dies für sie von Bedeutung sein könnte. Seit der Geburt des Kindes jedenfalls war Fräulein von Helmer ungewöhnlich still und blass.
Es war Helene nichts anderes übrig geblieben, als die völlig unvorbereitete junge Hofdame zu bitten, das winzige Geschöpf in weiche Tücher gewickelt hinunter ans Feuer zu tragen, nachdem sie selbst es zuvor gebadet und seine dünnen Gliedmaßen mit öligen Händen gerieben hatte, bis seine fahle Haut rosig wurde. Helene hatte sich der Nachgeburt zu widmen, während Hermine von Helmer noch hilflos mit dem Winzling im Arm den Auftrag entgegennahm, das Kind
verlässlich zu wärmen und ihm behutsam, tropfenweise, wie auch immer, von Sidonies Milch zu geben.
Als hinter dem Lakenvorhang haltloses Schluchzen zu hören war, sah Helene sich gezwungen, streng zu werden.
»Gehen Sie jetzt.«
Die Würde der unglücklichen fremden Frau berührte sie erneut, als diese schließlich ihre Kleider ordnete. In ihrem letzten übermittelten Schreiben hatte sie darum gebeten, sie mit dem Anblick des Kindes zu verschonen, weil sie fürchtete, daran zugrunde gehen zu müssen. Es ging ein Duft von ihr aus, der sie an Elsa erinnerte, so kostbar und besonders. Sie wandte ihr den Rücken zu und richtete ihr Haar unter dem Schleier.
»Ihr Kind wird es gut haben«, sagte Helene.
»Ob es jemand lieben wird außer mir?«, fragte die Fremde.
»Wenn sich niemand anders findet, was ich bezweifle«, hatte Helene gesagt, »dann werde ich es sein.«
Fröstelnd verschränkte sie die Arme und wandte sich zum Haus.
Als sie die Küche betrat, stand Sidonie über die Wiege gebeugt. Der kleine Junge, auf dessen Kopf sich der Flaum in erstaunliche erste Locken legte, lag noch immer an ihrer Brust.
»Nun hab ich sie, die zwei Kinder, von denen Celestine geredet hat«, sagte sie.
Spielerisch blies Sidonie in das Säuglingshaar.
»Warum sprichst du eigentlich nie über sie?«, fragte sie unvermittelt. »Warum erzählst du nie von deiner Schwester, der Schauspielerin?«
Es war weit nach zehn, als Finlay Gordon in der Charité eintraf. Er war besorgt und aufgewühlt. Er hatte Momente schrecklichster Ahnungen hinter sich, als er von Potsdam kommend den Kutscher ausbezahlte und auf das riesenhafte Gemäuer zulief, hinter dessen Fenstern nur vereinzelte Lichter auszumachen waren.
Befürchtungen, dass Helene auf dem Weg zu ihm etwas Grauenhaftes zugestoßen sein könnte - womit er schuldig sein würde und sich selbst seines Glücks beraubt hätte -, wechselten mit allen möglichen Erklärungen, die der reinen Vernunft entsprangen und die sich aus den Unwägbarkeiten heilkundlicher Berufe ermitteln
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