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Wiegenlied Roman

Titel: Wiegenlied Roman Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Kerstin Cantz
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Reisetasche, die sich am Boden neben dem verlassenen Stuhl befand. Sie griff nach dem Erstbesten, was sie zu fassen bekam. Erst später würde sie erkennen können, dass es ein besticktes Hemdchen war, denn sie hatte es längst in ihrem Mieder versteckt, als Hermine von Helmer wieder zurück in die Küche kam.

    Es war noch erstaunlich früh. Beinahe erheiternd die Vorstellung, dass Paganini womöglich noch spielte. Helene sah der Kutsche nach. Das schaukelnde Licht ihrer aufgesteckten Lampen zuckte über die ruhenden Windflügel, bevor sie hinter einem Hügel verschwand und den Mühlenberg in der dunklen, mondlosen Nacht zurückließ.
    Die Fremde hatte sich tapfer gezeigt, und ihr Wille, das Kind in dem knapp bemessenen Zeitraum, der ihnen zur Verfügung gestanden hatte, auf die Welt zu bringen, schien die Geburtsvorgänge befördert zu haben.
    Alles hatte sich auf eine nahezu akribische Weise und doch aufs Einfachste gefügt. Die Fremde war durch tägliche Bäder und warme Injektionen von Kamillenaufguss gut vorbereitet. Helene hatte ihr zu diesem Behufe ein silbernes Klistier übermittelt, was in Wahrheit zur Nottaufe diente und aus dem Nachlass der Mutter stammte. Zudem war sie in Elgins Lehrbuch auf ein Rezept gestoßen, das sie, dem eigenwilligen Wunsch folgend, sich nicht allein der Methoden ihres Vaters zu bedienen, zur Anwendung gebracht hatte. Zwei Gran Belladonna waren in destilliertem Wasser zu lösen, um sie mit einer Unze Schweineschmalz zu einer Salbe zu verrühren, die den Muttermund öffnen sollte.
    Als sie die Fremde, aus deren schwarzen Kleidern der nackte, gewölbte Leib wie etwas hervorschien, das nicht dort hingehörte, oben in der Kammer untersucht hatte, war ihr die Jahrmarktsattraktion der Frau ohne Unterleib in den Sinn gekommen. Nur, dass es sich hier gegenteilig verhielt.
    Während sie das Becken der sorgfältig Verschleierten auf zwei Kissen hochlagerte, sprach sie ihre beruhigenden Worte genau wie immer, wenn sie eine Geburt leitete, und hoffte, sie würden trotz aller widrigen Umstände ihre Wirkung tun.

    Die Frau, die während des gesamten Vorgangs standhaft schwieg, befand sich etwa in der vierunddreißigsten Mondwoche. Der Uterus war gleichmäßig ausgedehnt, und Helene glaubte mit Sicherheit den Kindeskopf im Grunde der Gebärmutter zu fühlen. Bei genauerer Untersuchung gelang es ihr, kleine Gliedmaßen des Kindes zu unterscheiden, vermutlich die Füße.
    Es war gegen siebzehn Uhr dreißig, als sie die Frau bat, ihre Position am Fußende des Bettes einzunehmen, und sich selbst zwischen ihre angewinkelten Beine setzte. Sie hatte einen Pressschwamm vorbereitet, hoffte aber, auf ihn verzichten zu können. In den verschiedensten Schriften war die Einleitung der Frühgeburt durch die Sprengung der Eihäute oftmals als erfolgreiche Alternative beschrieben. Einem beharrlichen Impuls folgend, hatte Helene sich für diese Methode entschieden, vor allem auch, weil sie anders vorgehen wollte als der Engelmacher.
    Am liebsten hätte sie gebetet. Sie benötigten eine Menge Glück.
    Das aus der Charité entliehene Instrument, eine dünne silberne Röhre, in der eine Nadel verborgen war, lag auf einem Leintuch in ihrem Schoß, während sie die Salbe mit einem hölzernen Stäbchen, an dessen Ende ein baumwollenes Tupfbällchen angebracht war, auf den Muttermund strich.
    Sie bedeckte die Beine der Frau mit dem Federbett. Sie warteten wortlose dreißig Minuten, in denen kaum mehr als das Kratzen von Helenes Schreibfeder zu hören war, denn entgegen jeglicher Vernunft hatte sie entschieden, jeden ihrer Schritte in einem eigens angelegten Diario festzuhalten, das sie im Haus verstecken würde.

    Unten in der Küche brüllte Sidonies Tochter sich die kleine Seele aus dem Leib, und als sie, vermutlich von der Brust ihrer Mutter, zum Schweigen gebracht worden war, meinte Helene aus den Kissen hinter den Schleiern tränenschweres Atmen zu hören.
    Mitleid war jetzt fehl am Platz. Es würde alles nur noch schlimmer machen.
    Helene legte die Feder fort und drehte das Licht der Öllampe höher.
    Die Salbe hatte ihre Wirkung getan. Mühelos war es ihr gelungen, die silberne Sonde, erwärmt und mit Öl bestrichen, am Zeigefinger ihrer linken Hand vorbeizuführen. Ein sanfter Druck gegen die Eihäute sprengte die Wasserblase.
    Zwei Stunden später setzten die Wehen ein.
    Es war ein kleiner, lautlos geborener Knabe, der jetzt an Sidonies Brust lag.
     
    Sie hatten keine andere Möglichkeit gesehen, als ihren

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