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Wiegenlied Roman

Titel: Wiegenlied Roman Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Kerstin Cantz
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Stängeln längst verblühter Stauden. Als Helene am Stand der Sonne auszumachen suchte, wie viel Zeit ihnen noch blieb, spürte sie Elsas Händedruck auf ihrem Arm.

    »Ich glaube, da will jemand was von dir.«
    Über einen Pfad, der sich aus einem Buchenwäldchen schlängelte, lief winkend ein Junge auf sie zu. Er mochte zehn Jahre alt sein. Der Schlamm war ihm bis zu den aus schmutzigen Hosen ragenden, dünnen Waden gespritzt, und die Holzschuhe erschwerten ihm das schnelle Laufen.
    Erst jetzt hörte Helene ihn rufen.
    »Wenn ich ihn richtig verstehe, braucht seine Mutter Hilfe«, sagte sie.
    Mit einer schlimmen Ahnung blieb Elsa zurück, als Helene dem Jungen mit großen Schritten entgegenlief. Sie wechselte einige knappe Worte mit ihm und fuhr ihm durch die Haare.
    »Komm«, rief Helene ihrer Schwester zu, »da will ein Kind auf die Welt.«
     
    Die Frau schrie, wie Elsa noch nie einen Menschen hatte schreien hören. Noch von keinem Lebewesen hatte sie jemals solche Laute vernommen, denn sie war - das wurde ihr schlagartig klar - sehr behütet aufgewachsen. Die zwei kleinen Kinder in der Behausung, wo sich alles in einem einzigen dämmrigen Raum abspielte, schienen mit ganz anderen Wassern gewaschen zu sein. Während ihr großer Bruder sich eilig wieder auf den Weg gemacht hatte, um Holz für das nächtliche Feuer zu sammeln, war das ältere seiner kleinen Geschwister gemeinsam mit einem gefleckten Hündchen auf einem Strohsack eingeschlafen. Das Kleinere, nur mit einem Hemd bekleidet, saß unweit von ihnen auf seinem nackten Hintern und rührte stoisch mit einem Holzlöffel in seinem leer gegessenen Schüsselchen.

    Auf Helenes Geheiß hin befand Elsa sich in einer unbequemen Stellung am Herdfeuer, wo sie Wasser erwärmen sollte, während das nun bald Neugeborene noch dabei war, sich seinen Weg aus dem schmerzgeplagten Leib der Mutter zu bahnen.
    Es war stickig in der Hütte, und nicht nur der Qualm des blakenden Talglichts neben Helene verursachte Elsa Übelkeit. Es roch nach ranzigem Fett und feuchten Wänden, nach Kohlsuppe und besonders gemein nach Hühnermist, was von der weißen Henne kommen musste, die aufgeplustert unter dem Bett hervorleuchtete. Elsa hatte sie gleich beim Betreten der Hütte entdeckt, noch bevor sie dazu übergegangen war, den Blick unter keinen Umständen auf Helene zu lenken, die auf einem Schemel sitzend zwischen den gespreizten Beinen der Frau ihrer Arbeit nachging.
    Jetzt musste Elsa aus den Augenwinkeln bemerken, dass sich das halb nackte Kleinkind zu ihr auf den Weg gemacht hatte. Beunruhigt sah sie ihm entgegen, wie es auf allen vieren über den Lehmboden näher kam. Unwillkürlich wich sie zurück, als es mit seinen schmutzigen Händen in ihr Kleid griff, um sich daran hochzuziehen, und nun, da es fiel und sich sein Hemdchen lüftete, blieb Elsa nichts anderes übrig, als festzustellen, dass es ein Mädchen war.
    Durch das empörte Brüllen des Kindes drang die ruhige Stimme Helenes.
    »Wenn du die Kleine beruhigen könntest«, sagte sie, »und achte darauf, dass sie nicht zu nah ans Feuer kommt.«
    Widerstrebend zupfte Elsa ihr Ridikül auf, entnahm ihm ein weiteres Mal das Spitzentuch, beugte sich zu dem blond
zerzausten Mädchen und wischte ihm den Rotz aus dem puterroten Gesicht.
    Seine Mutter gab ein lautes Stöhnen von sich.
    »Liese«, sagte das Mädchen und griff lachend nach Elsas besticktem Beutel.
    Helene, die vergeblich versucht hatte, die Frau aus dem Bett heraus in eine günstigere Gebärstellung zu bringen, konnte indessen die nassen Haare auf dem Schädel des Neuankömmlings fühlen.
    »Du musst pressen«, sagte sie zur keuchenden Mutter, »komm nur, halt dich an mir fest.«
    Als sich ihr das Köpfchen entgegenschob, strich Helene mit den Fingern über die flache Nase.
    »Hast du etwas, das ich ihm anziehen kann?«
    Erschöpft nickte die Frau. Helene spürte mit ihr die nächste Wehe kommen, die, wenn sie genug Kraft aufbrachte, die letzte sein würde.
    Als vom Bett her ein Quäken kam, zittrig und leise, wagte Elsa es, endlich aufzusehen. In den Händen ihrer Schwester rang ein winziges Wesen seine Gliedmaßen, als müsste es sich gegen etwas wehren.
    Helene lächelte Elsa aufmunternd zu und legte den Säugling auf den Bauch seiner Mutter. Während sie sich wieder herabbeugte, nahm Elsa, ohne eine weitere Anweisung abzuwarten, den Kessel vom Feuer, schüttete das dampfende Wasser in den bereitstehenden Bottich und trug ihn zum Bett.
    Sie war nicht im

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