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Wiegenlied Roman

Titel: Wiegenlied Roman Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Kerstin Cantz
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Geringsten darauf vorbereitet, mit wie viel Blut und mit welchem Verlust der unsäglichsten Substanzen eine Geburt verbunden war. Und niemals hatte sie dafür Interesse gezeigt, wie ein Menschenkind aussah, wenn
es das Licht der Welt erblickte, zerdrückt und zornig, seltsam verschmutzt, als wäre es mit geronnener Milch überzogen. Das Messer auf dem Stuhl neben dem Bett hätte sie vor noch ganz anderen Dingen warnen müssen. Doch wie hätte sie erahnen sollen, dass es eine Nachgeburt gab, die Helene in diesem Augenblick mit den Eihäuten dem Leib der Mutter entwand?
    In Elsas Ohren setzte ein hoher Pfeifton ein, als sie sich abwandte, und es war ein Wunder, dass sie dem kleinen Mädchen, das fasziniert die glitzernden Glasperlen auf dem Ridikül besah, nicht auf die Finger trat.
    Draußen in der Abenddämmerung kam ihr der Junge mit seiner Holzkiepe vom Wald her entgegen. Sie hastete zurück auf die andere Seite der Hütte und fand Halt an dem schiefen Pfosten der Wäscheleine, wo sie sich unter Krämpfen erbrach.

    Als Helene unvermittelt erwachte, war es noch tief in der Nacht. Am Fenster kratzte eine Rosenranke, und der Mond beschien einen von Linas Schürze blank geriebenen Apfel auf dem Nachttisch wie ein fremdes Gestirn.
    Die schwache Flamme der Öllampe beleuchtete dürftig die grün gestreiften Tapeten, ohne die Bordüre mit dem blühenden Weinlaub unter der Zimmerdecke zu erreichen. Nur über die Ornamente des schlanken Kachelofens huschte zuweilen ein Glanzlicht, wenn von irgendwoher ein Luftzug kam. Auf dem runden Tisch ragte der von Lina hergestellte Bücherstapel empor wie ein Obelisk. Romane und Textbücher von Elsa hatten in ungewohnter Harmonie mit den medizinischen Lehrbüchern Helenes zusammengefunden, Tintenfass
und Schreibzeug hatte die Magd kurzerhand in den Fächern des Sekretärs verschwinden lassen.
    Helene lauschte. Oben in der Dachstube war es still, und sie hoffte, dass ihr Vater nach den vielen durchwachten Nächten endlich Schlaf gefunden hatte. Sie schob den Bettvorhang zur Seite und roch Elsas allgegenwärtiges Parfüm - den Duft von gestoßenen Mandeln und Rosenöl. Das Bett auf der gegenüberliegenden Seite des Zimmers war leer.
    Sie fand ihre Schwester im Schlafzimmer der Eltern, in ihrem viel zu dünnen Nachthemd am Boden kniend, bei Kerzenlicht über ein aufgeschlagenes Buch gebeugt. Helene hatte es als Kind viel zu oft in Händen gehalten, um es nicht auf den ersten Blick zu erkennen.
    Sie ließ sich neben Elsa auf den kalten Dielen nieder und berührte die zerlesenen Seiten des alten Hebammenlehrbuchs, das vor vielen Jahren von Elgin Gottschalk verfasst worden war.
    »Es war rücksichtslos von mir, dich die Geburt mit ansehen zu lassen«, sagte Helene. »Ich hätte wissen müssen, dass es dich erschrecken wird.«
    »Sei doch still«, flüsterte Elsa. »Ich will nicht, dass Vater etwas hört. Oder wenn Lina angerannt kommt, das fehlte mir noch.« Sie schob Helenes Hand beiseite und blätterte weiter. »Was ich bei dieser Frau mit ansehen musste, das war für mich wie ein Blick in die Hölle.«
    »So schlimm? Wie kann ich es wiedergutmachen?«, sagte Helene. »Du solltest versuchen, es zu vergessen. Wie wäre es, wenn ich uns ein Glas Wein hole …«
    »Ich kann es nicht einfach vergessen«, unterbrach Elsa sie. »Es verhält sich komplizierter.«

    »In jedem Fall würde ich dir vor dem Schlafengehen eine andere Lektüre empfehlen.«
    Helene wollte das Buch fortnehmen, doch Elsa hinderte sie daran.
    »Du musst mir helfen, Helene. So sieht es aus.«
    »Aber ja. Wenn ich es kann …«
    »Sechzig Tage. Beinahe sechs Zoll. Ungefähres Gewicht: zwei Unzen und eine halbe.«
    Zwischen ihnen zuckte das Kerzenlicht über den Buchseiten. Die Kupferstiche zeigten winzige Föten in unterschiedlichen Stadien ihres Wachstums. Das Geschriebene kannte Helene auswendig.
    »Die Größe im dritten Mond lässt sich mit der eines jungen Maulwurfs vergleichen«, sagte sie.
    »Bitte tu etwas, damit es nicht weiterwächst.« Elsa umfing sich selbst und zog fröstelnd die Schultern hoch. »In zwei Tagen muss ich abreisen«, sagte sie. »Am Sonntag spiele ich vor dem Hof im Neuen Palais. Du musst mir helfen, ich flehe dich an. Du glaubst, ich habe erreicht, was ich wollte, weil ich in Berlin vor dem König auftrete, aber in Wirklichkeit stehe ich erst ganz am Anfang.«
    »Wer ist der Vater?«
    »Es gibt keinen Vater, keine Mutter, kein Kind«, sagte Elsa heftig. »Nur etwas, das so groß wie ein Maulwurf

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