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Wiegenlied Roman

Titel: Wiegenlied Roman Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Kerstin Cantz
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sie.

    Statt auf einem der gestreiften Fauteuils saß der König auf einem einfachen, ungepolsterten Stuhl. Den Rücken hielt er gerade, die Hände auf einen Stock mit Silberknauf gestützt, der zwischen seinen Beinen stand, von denen er das linke leicht ausgestreckt hatte. Er trug einen schlichten schwarzen Gehrock und helle Pantalons. Die Knöpfe seiner Weste spannten ein wenig über der Mitte, doch den Kopf wusste er so zu halten, dass der hochgebundene Kragen ihm nicht in die weiche Kinnpartie schnitt. Pomade bändigte seine dunklen Locken, die vom seitlichen Scheitel aus flach gekämmt Stirn und Schläfen schmückten. Der Oberlippenbart war akkurat konturiert und in der schnurgeraden Mulde zwischen Nase und Mund unterbrochen.
    Er wirkte müde, fand Helene. Nachdem ihr Vortrag beendet war, hatte man ihr bedeutet, auf einem kleinen Sofa ihm gegenüber Platz zu nehmen.
    Der Leibarzt des Königs, Professor Hufeland, ein schmaler Mann mit schulterlangem weißem Haar und großen, müden Augen, war neben ihm in einem bequemeren Sitzmöbel versunken und hielt fortwährend die Hand hinter das Ohr. Obwohl er nahezu erblindet war, nahm er weiterhin seine Verpflichtungen als Staatsrat und Leibarzt des Königshauses wahr und lehrte Pathologie an der Medizinischen Fakultät.
Es erschütterte Helene, diesen berühmten Mann, vor dem sie im Grunde eine weitaus tiefere Ehrfurcht empfand als vor dem König, als zerbrechlichen Menschen zu sehen, den die Geißeln des Alters zu früh heimsuchten.
    Der Staatsminister für Medizinalangelegenheiten hingegen war ein säuerlicher, in einem fort beleidigt wirkender Mann, der sich weigerte, Helene Beachtung zu schenken. Auch während ihrer kurzen Rede hatte er sie keines Blickes gewürdigt und mit zusammengekniffenen Lippen laut durch die Nase geatmet. Erst ein Räuspern des Königs konnte ihn zur Räson bringen.
    Seine Majestät wolle nur zuhören, hatte man ihr gesagt. Hähnlein und von Orth hatten sie mit dem Wagen vom Gasthaus abgeholt und die Wegstrecke zum Königlichen Palais genutzt, um sie auf das Kommende einzuschwören. Seit Helene Hähnleins Depesche erreicht hatte, war es ihr schwergefallen, den Zustand geistiger Agonie, der sie von da an ergriffen hatte, zu unterbrechen. Fast eine Woche lang musste sie sich zu kurzen Spaziergängen zwingen, Lesen war ihr unmöglich, und nicht einmal nach Elsa hatte sie mehr gefragt.
    »Fassen Sie sich vor allem kurz«, hatte Hähnlein in der Kutsche gesagt, »und werden Sie nicht gefühlig.«
    »Aber nein.«
    »Man kann nie wissen.«
    »Sie scheinen einen Fürsprecher zu haben, sonst wären wir nicht hier«, raunte von Orth, als sie die Treppenhalle des königlichen Palais betraten.
    Erst später sollte Helene erfahren, dass ihre Unterredung in einem ehemaligen Zimmer der legendären Hofdame Gräfin Voß stattgefunden hatte, die bis zu ihrem Tod eine enge Vertraute und Beraterin der königlichen Familie gewesen
war. Ein Kammerherr hatte sie in diesen Raum von beruhigender Schlichtheit geführt, wo Damasttapeten und Intarsienparkett dem Kenner verhaltene Hinweise auf mögliche Kostbarkeiten seiner Ausstattung gaben. An den Wänden befanden sich Porträts der königlichen Kinder Luises und eines von der Königin selbst, auf dem sie im Reitkleid zu sehen war.
    »Verbeugen Sie sich, wenn der König den Raum betritt, und verbleiben Sie so, bis er Sie begrüßt. Sie sprechen nur nach Aufforderung. Die korrekte Anrede ist Eure Majestät.«
    Was die Wahl des Zimmers vielleicht hatte vermeiden sollen, nämlich Helene bis zur Sprachlosigkeit einzuschüchtern, war von Orth mit seinen hastig gemurmelten Anweisungen gründlich gelungen. Es hatte zur Folge, dass Übelkeit ihr einen Moment lang die Kehle verschloss, als der Kammerherr den König und Hufeland ankündigte, die in Begleitung des Ministers kamen.
    »Also Sie ist die junge Frau mit den befremdlichen Talenten?«
    Väterliche Strenge begegnete ihr im Gesicht des Königs, als sie es endlich wagte, den Blick zu heben.
    »Ich bin Helene Heuser aus Marburg, Eure Majestät.«
    »Hörte, sie kann überzeugen«, sagte er. »Wollen sehen.«
    Helene erinnerte sich daran, wie Elsa einmal bei Tisch die abgehackte Redeweise Friedrich Wilhelms III. parodiert hatte, und so bediente sie sich erstmals des ungewohnten Mittels, ihre Lage wie ein Bühnenstück zu betrachten, in dem sie als eine Darstellerin unter mehreren ihren Beitrag zu leisten hatte.
    Als hätte all dies nichts mit ihr selbst zu tun, gelang es ihr,

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