Wiegenlied Roman
und gar eine Nonne werden?«
»Na gut«, sagte Helene. »Ich frage die Köchin von der ollen Köpke.«
»Das kommt überhaupt nicht infrage. Und fang nicht an zu berlinern. Setz dich hierher.«
Helene nahm vor dem Toilettentisch Platz und zog die letzten verbliebenen Nadeln aus ihrem verrutschten Knoten.
Elsa hielt bereits eine Schere in der Hand. Ihre Blicke trafen sich im Spiegel.
»Bis zum Kinn«, sagte Helene.
Fünf
AUGUST 1828
Marburg, 13ter August 1828
Es hebt mir das Herz, meine liebsten Töchter, dass Ihr oft beisammen sein könnt, wenn auch nur für eine kurze Zeit des Tages. So kann ich meinen letzten Brief aus Marburg an Euch gemeinsam richten, was Euch einen ersten Hinweis darauf geben mag, wann Ihr mich in Berlin erwarten könnt: sehr bald!
Für das Haus habe ich einen Mieter gefunden, der mir angenehmer ist als jeder sonst, es ist Doktor Böhme, der Eurer Mutter zuletzt ein so guter Arzt war. Seine Frau erwartet das erste Kind, und ihm überlasse ich das Haus gern, so kann auch Lina bleiben.
Malvine Homberg, die mir in treuester Sorge einen wöchentlichen Besuch abstattet, und das, obwohl ich oftmals ein so wortkarger Gast in ihrem Hause war, ist mir in vielem behilflich, was meine bevorstehende Abreise angeht. Ihr kennt sie besser als ich und wisst, dass sie sich von ihren eigenwilligen Beschlüssen nicht abbringen lässt. Fast habe ich den Verdacht, sie hält die männliche Spezies für unvollständig entwickelt. Aber wer weiß, ob sie nicht möglicherweise recht damit hat, denn seit ich allein hier in der Hofstatt lebe, bin ich so
manchen Umständen ausgesetzt, mit denen ich mich nie befassen musste, und wenn, dann liegt es so lange zurück, dass ich es vergessen habe.
Nun, da Malvine Homberg es sich zur Aufgabe macht, darüber Sorge zu tragen, dass ich in einer Ausstattung reise, mit der ich mich in Berlin nicht blamiere, ordne ich meine Wissenschaft in Kisten, wobei es mir schwerfällt, etwas auszusortieren, besonders vom Geschriebenen. Bei den Instrumenten ist es mir um vieles leichter, mich zu beschränken. Heute früh verstaute ich die Beckenzirkel, mein Sektionsbesteck und einiges wenige, das ich mit Rücksicht auf Elsa an dieser Stelle unerwähnt lasse.
Seit ich entschieden habe, die Beckensammlung bis auf vier der anschaulichsten Exemplare (um die Hähnlein mich inständig bat) im Gebärhaus zu belassen, gibt Direktor Busch sich leidlich Mühe, seine Kränkung zu überspielen, dass man mich nach Berlin berufen hat und nicht ihn. Ich vermute, ihn tröstet derzeit allein, dass ich keine leitende Stellung übernehmen werde, ein Umstand, den zu verstehen ihm ebenso schwerfällt wie wohl einigen meiner gelehrten Kollegen.
Ihr seht also, dass ich mich auf eine längere Zeit der Abwesenheit von Marburg einrichte. Ich habe mir sogar neues Reisegepäck gekauft. Tröstet Euch dieses Zeichen von verhaltenem Optimismus?
Und erinnert Ihr Euch noch an meine alte kalbslederne Tasche? Früher, wenn ich auf Reisen ging und die alte Marthe sie vom Speicher holte, musste stets eine von Euch hineinklettern, an Packen war erst einmal gar nicht zu denken, es sollte Eure Postkutsche sein. (Wenn
ich mich recht entsinne, saß meistens Elsa in dem alten Ungetüm, und Helene spielte den Kutscher.)
Dabei fällt mir ein, vor einigen Tagen hatten wir im Gebärhaus Besuch von einem jungen Kollegen aus Schottland. Er ist Arzt in London am Guy’s Hospital und hat ein Sabbatical genommen, um Gebärhäuser in ganz Europa aufzusuchen; er erinnerte mich so sehr an meine frühen Jahre. Wir hatten ein angeregtes Gespräch, wofür ich ihm danke, denn es erfüllt mich mit den besten Gedanken für den Aufbruch nach Berlin.
Doktor Finlay Gordon befasst sich mit der Erforschung des Kindbettfiebers, ein wahrhaftig ehrgeiziges Unterfangen. Welch ein großer Schritt würde gelingen, wenn dem Geheimnis dieser Geißel auf die Spur zu kommen wäre! Man hat außerhalb eines Gebärhauses keine Frau daran sterben sehen. Eure Mutter hat mir auch niemals einen solchen Fall geschildert. Gordon erzählte mir ausführlich von seinen Beobachtungen bei einem gemeinsamen Abendessen, das wir in der Goldenen Sonne einnahmen (worüber Professor Busch, der ihn etwas schroff behandelte, wiederum recht beleidigt war).
Doch was ich eigentlich berichten will, ist, dass erst, als wir beinahe schon auseinandergingen, sich herausstellte, dass er Helene in Berlin begegnet sein muss. Es war mir, als hättest Du Eindruck auf ihn gemacht, was
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