Wiegenlied Roman
auf die Unzulänglichkeit seiner Person. Keine Nacht konnte er mehr schlafen, so jedenfalls kam es ihm vor. Voller Selbsthass wälzte er sich auf seinem Lager, oder aber er starrte mit brennenden Augen in die Dunkelheit seiner fensterlosen Kammer im Königlichen Palais. Wäre er nicht der, der er war, und die anderen würden es nicht ebenso vermeiden wie er, ein einziges privates Wort zu wechseln, dann wäre er sicher längst im Bilde über die Einzelheiten, die untereinander ausgetauscht wurden. Und wären sie noch so unbedeutend, hanebüchen oder erlogen - er würde das Ganze durch den Filter seines klaren Geistes schicken und erhielte eine Essenz
an Wahrscheinlichkeiten, die ihn dem Tatsächlichen nahebringen konnte. Aber so wusste er noch immer nichts. Mitunter empfand er sein Schattendasein jetzt wie einen selbst erschaffenen Kerker, zu dem er unbedacht den Schlüssel fortgeworfen hatte.
Er bewohnte eine der Kammern hinter den Tapetenwänden der königlichen Zimmer, wo für gewöhnlich Diener und Zofen schliefen. Seine Kammer im Labyrinth der unsichtbaren Räumlichkeiten hatte er so gewählt - und beim Hofmarschall durchgesetzt, der seinen Wunsch als Grille eines Sonderlings abtat -, dass er Luises Schlafgemach erreichen konnte, ohne gesehen zu werden. Ihm allerdings war es möglich zu bemerken, ob sich etwa der König darin aufhielt, der ebenso wie er schlaflose Nächte hatte. Seine Majestät blieb meistens nicht lang. Der König pflegte dann reglos im Zimmer zu stehen, berührte nichts, setzte sich nicht. Bestimmt suchte er nach Erinnerungen, und bestimmt konnte er es kaum ertragen, sie nicht mehr vorzufinden in jenem Mobiliar, dem nichts mehr von der Königin anhaftete. Alles war künstlich am Leben erhalten und deshalb noch toter als tot.
Ihm hingegen machte das für gewöhnlich nichts aus, denn er war ein Teil dieser Gegenstände. Nur wäre es in seiner momentanen Lage hilfreich gewesen, ein Teil des Banalen am Hofe zu sein. An schlechten, durch Schlaflosigkeit und Gliederreißen geprägten Tagen vermutete er hinter jeder vorgehaltenen Hand, hinter jedem Kichern und Flüstern ein Wissen, das ihn ausschloss.
Mit dem Hass, den er in sich trug, wagte er nicht mehr nach Charlottenburg zu gehen. Er konnte sich nicht darüber hinwegtäuschen, dass sie seine Anfeindungen niemals geduldet hätte. Er hätte als schlechter Mensch vor ihr schlafendes
Antlitz treten müssen, und nichts fürchtete er mehr, als ihren Frieden zu stören.
Als ihm die Tränen in die Augen schossen, wandte er sich vom Fenster ab. Ein Himmel aus violetter Seide fiel über Luises leeres Bett herab und teilte sich über zwei bronzenen Sphinxen. Vor dem dunklen Schimmer der drapierten Wände vollendeten zwei Postamente mit Alabastervasen die anmutige Symmetrie. Die Eleganz des Zimmers bestürzte ihn. Sie war so unvergleichlich.
Auf den Stock gestützt, nestelte er das Schnupftuch aus seiner Rocktasche. Der einsame Laut seines Schluchzens brachte ihn vollends zur Verzweiflung, er konnte sich nicht beruhigen. Während er weinte, laut, wie ein krankhaft gealtertes, von allen verlassenes Kind, schälte sich ein Gedanke aus seinem Elend.
Was, wenn die Person einfach stürbe? Sie war so bedeutungslos. Man würde sie schnell vergessen.
Mit dem Rücken zu der wimmernden Frau auf ihrem Bett schrubbte Helene sich an der Waschschüssel den Talg von den Händen, den sie auf Anraten Hähnleins vor der Tastuntersuchung in einer dicken Schicht aufgetragen hatte. Die Pusche war bereits auf dem Weg zu Doktor Novak, denn die Geburtsvorgänge waren zum Stillstand gekommen.
Die junge Schwangere war eine Syphilitische mit ersten Symptomen, was die Gebärabteilung in Schwierigkeiten gebracht hätte, wäre Helene nicht bereit gewesen, noch am selben Abend, als die Frau mit starken Wehen eingetroffen war, ihr Bett im Hebammenzimmer zur Verfügung zu stellen.
Nach der Entbindung musste sie eiligst in die Abteilung für venerische Krankheiten verbracht werden; bei ihrem Kind blieb abzuwarten, ob es die Strapazen der Geburt überleben würde. Nach allem, was sie hatten von ihr erfahren können, war die Syphilis von ihrem Mann, einem Spreeschiffer, auf sie übergegangen.
Helene notierte im Protokollbuch die unveränderte Öffnung des Muttermundes zum Umfang eines Achtgroschenstückes, während die Dämpfe des Räuchergefäßes ihr die Augen tränen ließen. In der Nacht hatte sich Helene nach einem Fieberschauer der Schwangeren mit ihrem Vater beraten und nach
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