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Wiegenlied Roman

Titel: Wiegenlied Roman Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Kerstin Cantz
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könne nicht nur an den Nachtdiensten liegen oder dem täglichen Lernpensum, das sie sich auferlegte, sondern daran, dass sie dabei war, sich über sie zu erheben. Vielleicht hatte sie sich aus diesem Grund in den Kopf gesetzt, Sidonie zu finden.
    Helene stellte sich den Windböen entgegen, die aus dem grauen Himmel an ihr vorbei in den Gang fuhren. Sie atmete die feuchte Luft ein und genoss für einen Moment sogar den Sprühregen, der auf ihr Gesicht traf.
    Wann würde die Unterredung mit dem chirurgus forensis endlich beendet sein? Sie hoffte inständig, dass Professor Hähnlein mit dem Vortrag seiner Bitte erfolgreich war. Nach mehreren Gesprächen mit ihrem Vater hatte Hähnlein sich bereitgefunden, die Sache als persönlichen Wunsch vorzutragen, denn eine Anweisung widerstrebte ihm in diesem Fall, zumal die chirurgi der Polizeibehörde unterstanden. Er ziehe, so hatte Hähnlein sie wissen lassen, dafür einen Mann in Betracht, den er aus seiner Studienzeit kannte.
    Natürlich hatte Helene erwogen, auf eigene Faust zu handeln. Doch es war ausgeschlossen, sich wie eine Närrin durch die Bordelle an der Königsmauer zu fragen. Auch hatte ihr diese Vorstellung Angst gemacht, und das schien ihr, da sie im Grunde keine ängstliche Natur war, eine angemessene Warnung zu sein.
    Ihr Plan war, einen chirurgus forensis bei seiner Visitation der Bordelle zu begleiten - eine Idee, die Hähnlein inzwischen beinahe für seine eigene hielt, da er befand, dass eine Hebamme an der Seite des inspizierenden Arztes den Zugang zu den Prostituierten erleichtern könnte.

    Ihrem Vater die Zustimmung abzuringen war Helene zuvor schnell gelungen, obwohl er ganz und gar nicht davon angetan war.
    »Hast du mich nicht gelehrt, jede Frau, die uns anvertraut ist, mit Respekt zu behandeln?«, hatte sie ihn gefragt.
    »Das vertrete ich unverändert, Helene, aber ich möchte in gleichem Maße meine Tochter vor rohen Eindrücken schützen. Du hast nicht die geringste Vorstellung, was dich dort erwarten wird.«
    »Aber eben darum geht es mir. Du würdest es verstehen, wenn du dich nicht weiter durch den Umstand ängstigen ließest, dass ich deine Tochter bin. Ich werde an der Seite eines erfahrenen Arztes sein, und ich hoffe, es wird mir helfen zu begreifen, warum eine Frau wie Sidonie es vorzieht, zurück in ein Bordell zu gehen, anstatt ihr Kind unbehelligt zu gebären.«
    »Woher willst du überhaupt wissen, ob sie wieder in diesem Hause ist? Wenn es dir denn tatsächlich in der Hauptsache um dieses eine Mädchen geht. Möglicherweise ist sie gar nicht mehr in Berlin. Wie willst du sie dann finden? Und wer weiß, vielleicht kommt sie auch von allein zurück? Wir haben das in Marburg oft genug erlebt, erinnere dich.«
    »Wenn ich sie nicht finde, kann ich doch vielleicht etwas über sie erfahren. Und ich werde sehen, wie ein forensischer Arzt bei seiner Arbeit vorgeht …«
    »Du solltest nicht glauben, dass dieses Freudenmädchen sich unbedingt von dir retten lassen will.«
    »Da hast du verdammich recht, würde sie sagen.«
    Helene hatte gelacht, so wie sie jetzt lächeln musste, bei dem Gedanken an Sidonie.

    Sie hatten das Gespräch, an dessen Ende ihr Vater sein Einverständnis unter Vorbehalt erklärte, in seiner Dienstwohnung geführt, wo sie zuweilen gemeinsam eine mehr schlechte als rechte Mahlzeit aus der Charité-Küche des Ostflügels einnahmen. Wenn sie Tee oder Kaffee tranken, bestand er darauf, ihn auf einem Spiritusrechaud zuzubereiten, wie er es sich hatte von Lina beibringen lassen, und mehr als einmal hatte sie sich gefragt, wie es wohl ihrer Mutter gefallen hätte, sie so zu sehen. Seltsamerweise fand sie in ihren Vorstellungen keinen Platz für sie in Berlin, und das machte sie unendlich traurig. Ob ihre Mutter dergleichen geahnt, ob sie es gefürchtet hatte?
    »Wie ich höre, möchten Sie mich begleiten, sofern Sie es nicht gerade vorziehen, sich den Tod zu holen.«
    Der Mann, der sich ihr als Doktor Friedemann Blunck vorstellte, mochte im Alter ihres Vaters sein. Eine schwarzlederne Klappe bedeckte das linke Auge, und das hagere Gesicht, aus dem eine Adlernase hervorstach, war von tiefen Furchen durchzogen. Sein schwarzer Rock wirkte abgetragen, die Hosen ungeplättet, das Halstuch war lose gewickelt, und die Hemdsärmel hingen knopflos über seinen langen Händen, die auf dem Silberknauf seines Gehstocks zusammenfanden.
    »Ich bin einverstanden für das eine Mal«, sagte er, während er Helene mit seinem wasserblauen Auge

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