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Wiegenlied Roman

Titel: Wiegenlied Roman Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Kerstin Cantz
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genauestens taxierte. »Zweite Oktoberwoche. Ich werde Ihnen noch ein verbindliches Datum nennen.«
    Er wandte sich zum Gehen, ohne eine Antwort abzuwarten.
    »Und wenn ich verbindlich sage, meine ich es so.«
    »Ich danke Ihnen sehr, Herr Doktor Blunck«, rief Helene ihm nach, der sich mit langen Schritten entfernte. »Ich hoffe,
Sie können mir glauben, wie sehr ich es zu schätzen weiß, dass Sie …«
    Im Weitergehen hob er die Hand, um sie zum Schweigen zu bringen. An Novak, der ihm mit Pusche in der Nachhut entgegenkam, ging er grußlos vorbei.
    »Was machen Sie denn noch hier, Heuser?«, herrschte Novak sie verkniffen an, während die Pusche mit flatternden Schürzenbändern im Schlafsaal verschwand.
    »Wohnen Sie jetzt bereits in der Charité wie Ihr Vater? Warum lassen Sie mich wegen der Syphilitischen rufen? Es besteht kein Anlass dazu, wenn sie keine Wehen hat. Oder hat sie inzwischen welche?«
    »Sie ist entkräftet und schläft. Jedenfalls tat sie das noch vor wenigen Minuten.« Sie schloss das Fenster.
    »Gehen Sie und erstatten Sie mir Bericht, wie es jetzt ist, Herrgott noch mal. Ich werde mich nicht grundlos der Gefahr einer Ansteckung aussetzen.«
    Im Schlafsaal lief ihr die Pusche mit hochrotem Kopf entgegen.
    »Die Wasser sind abgeflossen«, keuchte sie. »Der Herr Professor, also dein Vater, er ist bei ihr. Er hat englische Handschuhe aus Pferdeblasen, sagt er, ich soll sie aus seiner Wohnung holen und Baumöl aus dem Medikamentenschrank …«
    »Soll ich das schnell für dich machen?«
    »Nein«, sagte Pusche hastig. »Geh du solange zu deinem Vater. Er hat mir genau gesagt, wo alles ist. Was willst du mit den Decken?«
    »Ich wollte sie ins Wöchnerinnenzimmer bringen«, sagte Helene.
    Erst jetzt fiel ihr auf, dass sie die Wolldecken umklammerte wie einen Schutzschild. Die Pusche nahm sie ihr ab.

    »Gute Güte, wenn doch nur alles schon vorbei wäre«, sagte sie.
    Doch es fing gerade erst an.
    In der Hebammenkammer fand Helene ihren Vater mit aufgerollten Hemdsärmeln an der Seite der jungen Spreefischerfrau. Während er sich die Hände mit Talg einrieb, fragte er sie danach, wo sie wohnte. Dass es eine Fischerinsel mitten in Berlin gab, hatte er noch nie gehört. Die Frau war ruhig, auch als er die Hand auf ihren Bauch legte und sagte, dass er sie untersuchen werde. Ob sie damit einverstanden sei, wenn er seine unausgeschlafene Tochter nach Hause schickte? Sie nickte lächelnd.
    »Niemandem nützt eine übermüdete Geburtshelferin«, sagte Clemens, »in diesem Fall sind Arzt und Patientin sich einig.«
    Helene ging nicht gern, doch die gespannte Haltung ihres Vaters zeigte an, dass er nicht bereit war, sich jetzt auf eine Debatte einzulassen.
    Auf dem Gang begegnete ihr Professor Hähnlein.
    »Sie machen sich Sorgen um Ihren Vater, nicht wahr? Das sehe ich Ihnen an, aber das müssen Sie nicht. Vertrauen Sie auf seine Erfahrung und auf meine. Ich werde ihm zur Seite stehen. Gehen Sie nur, und lassen Sie die alten Herren ihre Arbeit tun.«
    Helene zögerte.
    »Nicht überzeugt?«, fragte Hähnlein.
    »Ich frage mich nur, wenn man sich gegen eine Ansteckung mit Syphilis schützen kann, ob nun der Talg oder die Handschuhe das Mittel sind, warum nicht gegen das Kindbettfieber?«
    Hähnlein runzelte die Stirn. Ihre Frage missfiel ihm deutlich.

    »Hören Sie, kein Mann kann von dem Fieber befallen werden und ebenso keine Frau, die nicht frisch entbunden hat. Nur weil Ihnen der junge Mr. Gordon gefällt, sollten Sie sich nicht von seinen Ideen anstecken lassen. Verstehen Sie mich nicht falsch - der Kollege aus Schottland ist mir durchaus sympathisch, aber er ist ein Hitzkopf. Er zieht voreilige Schlüsse, die jeder Grundlage entbehren. Ich gebe Ihnen den guten Rat, auf Ihren Verstand zu hören und zu beherzigen, was Sie von Ihren Lehrern gelernt haben. Und vor allen Dingen schlafen Sie sich aus.«

    Für ihre Verhältnisse war Elsa sehr früh aufgestanden, und da sie darauf brannte, sich mitzuteilen, hatte es ihr keine Mühe gemacht. In der vergangenen Nacht hatte sie so gut wie kein Auge zugetan. Nach dem Theater war sie schnurstracks nach Hause gegangen, hatte mit Hersilie Stopfkuchen spanischen Likör getrunken und geplaudert. Seit Neuestem nämlich war Hersilie an Familiengeschichten interessiert, denn ihr großes Herz hatte beschlossen, dem Herrn Professor, ihrem »armen« Vater, ein tröstendes Glück in Aussicht zu stellen. Es beschämte Elsa nicht im Geringsten, die aussichtslosen

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