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Wiegenlied Roman

Titel: Wiegenlied Roman Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Kerstin Cantz
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einem Aderlass von zehn Unzen eine Gabe chininum sulfuricum mit Tamarindenmark verabreicht. Einen warmen Leinsamenwickel hatte die Frau als Erleichterung empfunden, und jetzt, als Helene sich über sie beugte, fielen ihr vor Erschöpfung die Augen zu.
    Sobald die Atemzüge ruhig wurden, verließ Helene die Kammer. Dem Wäscheschrank entnahm sie zwei mottenzerfressene wollene Decken und machte sich auf den Weg zum Wöchnerinnenzimmer. Die Luft war klamm und schon wieder abgestanden, selbst auf den Gängen. Das Wetter war mit einem Schlag herbstlich geworden, nass, windig und kühl.
    Zwei von acht Wöchnerinnen waren seit dem Tod jener Frau, die sie gemeinsam mit Hähnlein seziert hatte, am Kindbettfieber gestorben, und man zog in Erwägung, in diesem Jahr früher mit dem Heizen zu beginnen. Die Wetterprotokolle legten die Gefahr einer Epidemie besonders bei nasskalten Witterungsverhältnissen nahe, und Hähnlein hatte Helene die Verantwortung für die höchste Reinlichkeit auf der Entbindungsabteilung übertragen. Auch empfahl er
ihr, die Ostwinde zum Lüften zu nutzen, damit sie die faulen Dünste abführten.
    Sie dachte an Finlay Gordon, der nicht an eine Übertragung des Fiebers durch die Atmosphäre glauben wollte. Er hatte an jenem Abend bei Hähnleins mit ihr darüber gesprochen, als redete er zu einem Kollegen.
    »Wenn das Kindbettfieber, wie nahezu alle meiner Kollegen immer noch glauben wollen, sich aus den geschwächten Organen einer Wöchnerin entwickelt, wie kommt es dann, dass wir dieses Phänomen ausschließlich in Hospitälern und Gebärhäusern finden? Wir haben schon so viel Zeit verschwendet, denn was ich glaube, ist nicht neu. Es gibt Aufzeichnungen und Protokolle schon aus dem vergangenen Jahrhundert, die ganz ähnliche Schlüsse dokumentieren. Wir, Ärzte und Hebammen in den Gebärinstituten, müssen uns darüber im Klaren sein, dass wir selbst das Fieber von einer Frau auf die andere übertragen, solange wir die Ursachen nicht kennen.«
    Sie hatte noch den Klang seiner Stimme im Ohr, die fremde Melodie seiner Sätze, wie er die Worte aussprach, wie ihm die dunklen Haare während seiner vehementen Rede in die breite Stirn gefallen waren. Er hatte ein flächiges Gesicht mit weit auseinanderstehenden graugrünen Augen und jungenhaften Zügen, die Nase war ein wenig rundlich, der Mund weich geschwungen. Seine Ansichten stießen auf größte Skepsis. Sie dachte gern an ihn.
    Zwei Mägde kamen ihr aus dem Schwangerenzimmer mit einem Korb Schmutzwäsche entgegen. Es war unmöglich, die Betttücher täglich zu wechseln, da es ihnen an Wäsche mangelte, und so waren gegen die flüchtigen Gifte menschlicher Ausdünstungen beständig Räucherpfannen mit
Salbei und Essig im Einsatz. Auf das neue Leinzeug, die benötigten Krankenhemden und Decken, die von den Zuwendungen der Zarin angeschafft werden sollten, wartete man noch immer.
    Aus dem Wöchnerinnenzimmer hörte Helene die Säuglinge quäken. Unter lautem Gähnen machten die Frauen einander erste Mitteilungen, die sich über den ganzen Tag hinziehen würden. Sie öffnete eines der Gangfenster und schüttelte die Decken aus, weniger in der Hoffnung, die Kampferdämpfe damit zu vertreiben, als ihrer Anstrengung Herr zu werden, die es sie zuweilen kostete, den Frauen aufmerksam zu begegnen und freundlich, wie sie es von sich verlangte.
    Es kam ihr vor, als beklagten sie sich über jede Unbill allein bei ihr, da sie bei der Pusche auf taube Ohren stießen. Im Übrigen hatte sich bei den Frauen herumgesprochen, dass sie mit Helene die Tochter des neuen Professors vor sich hatten, was ihnen nicht immer geheuer war, aber letztlich doch nützlich erschien.
    Die Blödsinnigen, deren Schreie sie von den nahe gelegenen Sälen belauschten, wenn man sie dort kalten Bädern unterzog, waren ein ebenso geschätzter Gesprächsgegenstand der Frauen wie das Essen, sie konnten sich über Grützsuppen und Bollenfleisch auslassen, als wären sie es gewohnt, von goldenen Tellern zu essen. Ihr Liebstes jedoch war es, sich über Doktor Novaks rüden Ton zu ereifern, wenn er sie zur Küchenarbeit ans Ende des Flügels oder zu den Wäscherinnen in den Keller schickte oder sie zum Bandagenwickeln für die Chirurgie abstellte, damit sie sich nicht räsonierend in den Stuben zusammenrotteten, wie er das nannte.

    Die Frauen verlangten ihr so viel ab, wie sie verdienten, und das war eine erhebliche Menge. Es kostete Helene mehr Kraft als zu anderen Zeiten. Manchmal fürchtete sie, es

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