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Wiegenlied Roman

Titel: Wiegenlied Roman Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Kerstin Cantz
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zwingend respektieren muss. Verzeihen Sie mir diesen Exkurs, doch ziehen Sie in Betracht, gelegentlich darüber nachzudenken.«
    Helene wagte nicht, Blunck anzusehen.
    »Fangen wir nun ganz von unten an«, sagte er und bediente den Klingelzug an der Tür des schmalen, grauen Hauses, das er angesteuert hatte.
     
    Im Haus der kalten Pauline begriff Helene, dass ein chirurgus forensis , der wusste, was er tat, immer die Morgenstunden wählen würde, um ein Bordell für seine Visitationen aufzusuchen, denn die Prostituierten befanden sich zu dieser Zeit in bleiernem Schlaf. Obwohl es den Freiern verboten war, in den Freudenhäusern zu übernachten, fanden sich einige, die aus den Betten zu vertreiben waren und die fluchend, kaum wach und noch unter dem Einfluss des Branntweins, auf unsicheren Beinen das Haus verließen, nachdem Blunck sich unnachgiebig Zutritt zu den Kammern verschafft hatte.
    Zum ersten Mal traf Helene auf die andere Seite, den fehlenden Teil dessen, was ihr seit Jahren in den Gebärhäusern Marburgs und Wiens begegnet, was ihr in der Charité mit namentlich bekannten Huren bekannt geworden war. Die Männer.
    Sie zeigten sich betrunken, misslaunig, grob oder auch, obwohl eben erst aus dem Schlaf gerissen, bereits wieder
feixend die Nase in den Wind haltend wie Füchse in einem Hühnerhof. Ihre Blicke streiften Helene nicht nur, sondern befühlten sie, maßen den Umfang ihrer Brüste und griffen ihr zwischen die Beine. Es war so unfassbar, dass sie es nur zur Kenntnis nehmen konnte, betäubt, ausgeliefert, wäre nicht Blunck, der sie mit seiner Stimme, seinem sicheren Auftreten zu sich an seine Seite nahm und sie schützte, unantastbar machte, indem er sie als Hebamme vorstellte, was einen Effekt hatte, als führte er die heilige Muttergottes mit sich oder aber eine verdammte Hexe.
    Die Bordellwirtin, eine hagere, verwüstete Person, war stets um sie. Helene hatte den Eindruck, dass sie versuchte, etwas vor Blunck zu verbergen, während sie mit Nichtigkeiten auf ihn einredete und dabei vergeblich versuchte, ihre Pfeife zu entzünden.
    Blunck hatte Helene indessen einen wackligen Hocker in die Hände gedrückt, den er einer der ersten engen Kammern entnommen hatte und den sie seitdem von Zimmer zu Zimmer schleppte. Mit dem Protokollbuch auf den Knien, vor den Türen sitzend, schrieb sie über Frauen, die sich in ihren klammen Betten verschanzten, weil ihnen eine weitere von vielen verheerenden Nächten in den Knochen steckte, und die sich mit hängenden Strümpfen und geflickten Hemden, aufbegehrend oder klaglos, je nach Temperament, Bluncks Visitationen ergaben. Alle wehrten sich entschieden, Helene als Zeugin der Visitation zuzulassen.
    Die kalte Pauline lehnte sich mit verschränkten Armen an die Wand des engen Ganges. Endlich war es ihr gelungen, die Pfeife in Brand zu stecken, und sie blies Helene den Qualm ins Gesicht, während diese die syphilitischen Symptome eines schlesischen Mädchens notierte.

    »Sie sollten mal lieber schnelle zur ollen Roon rübermachen, bevor es zu spät ist«, sagte Pauline.
    »Zu spät wofür?«, fragte Helene gleichmütig. Sie wollte sich nicht anmerken lassen, dass die Erwähnung von Sidonies Bordellwirtin sie alarmierte, denn offensichtlich legte Pauline es darauf an.
    Blunck sagte dem Mädchen in der Kammer, sie solle sich anziehen, da sie ihren Morgenkaffee in der Charité trinken würde. Zuerst dachte Helene, das Wimmern käme von ihr. Doch aus den Augenwinkeln sah sie Pauline unruhig werden. Als könnte sie sich in ihren Qualmwolken unsichtbar machen, bewegte sie sich in seitwärts gewandten kleinen Schritten auf eine Tür am Ende des Ganges zu, vor der eine Waschschüssel stand, als ginge es dort nicht weiter.
    Helene klappte das Buch zu, angelte nach dem Tintenfass am Boden und lauschte angestrengt. In dem Zimmer war jemand, das sagte ihr der Instinkt.
    »He, Blunck, das werden Sie doch wissen wollen, wenn sich eine aus der Charité verdrückt hat, oder?«
    Pauline hustete, als müsste sie auf der Stelle ersticken.
    »Hören Sie«, sagte Helene, als Blunck an ihr vorbei aus der Kammer kam.
    Er sah sie an und folgte ihrem Blick zum Ende des Ganges. Mit zwei Schritten war er an der Tür. Er schob Pauline zur Seite, die blecherne Waschschüssel flog mitsamt dem dreibeinigen Gestell scheppernd zu Boden. Blunck fand die Tür verschlossen und fackelte nicht lange. Er trat sie ein.
    Helene sah Pauline das Weite suchen, während die Mädchen eines nach dem anderen die

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