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Wiegenlied Roman

Titel: Wiegenlied Roman Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Kerstin Cantz
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Studenten und Assistenten einander ins Gehege, doch zu diesem Zeitpunkt hatte Blunck schon langjährige Dienste als Lazarettarzt während der napoleonischen Kriege hinter sich. In der Schlacht bei Leipzig hatte er ein Auge verloren.
    In den Berliner Bordellvierteln gab er schon in den ersten Wochen nach seiner Ernennung zum chirurgus forensis den Glauben daran auf, dass es Friedenszeiten für die menschliche Existenz geben konnte, sofern diese an Orte wie die Königsmauer oder den Bullenwinkel verschlagen worden war.

    Er kannte alle Abgründe und Hunderte von verschiedenen Lebenswegen, die dorthin geführt hatten. Er wusste von Töchtern roher Gesellen, Matrosen, Scharfrichterknechten und Dieben, die beinahe beiläufig zu Huren wurden, von ahnungslosen Mädchen aus den preußischen Provinzen, die auf der Suche nach Lohn und Brot in Kuppelnester gelockt und zur Prostitution gezwungen wurden, von Näherinnen, die der Hunger auf die Straße getrieben hatte, wo sie feststellten, dass die zehn Silbergroschen für das Anfertigen eines Mantels in einer halben Stunde zu verdienen waren, von Zwölfjährigen, die sich Soldaten anboten, um die jüngeren Geschwister ernähren zu können, und von Hurenkindern, deren Leben mit dem ersten Atemzug in der Kloake begann.
    Beim Aufspüren syphilitischer und schwangerer Huren führte Bluncks Weg durch die Bordelle, wo die inskribierten, bei der Polizeibehörde gemeldeten Lohnhuren sich für fragwürdige Annehmlichkeiten wie Kost und Logis, für den billigen Luxus von Putz und Kleidern ihren Wirtinnen auslieferten. Wenn eine durch Winkelhurerei, durch das heimliche Arbeiten auf eigene Hand, zu entkommen suchte, brachte man sie mit prügelnden Verfolgern oder einer Anzeige zur Räson.
    Führte der Weg einer Hure aus dem Polizeiarrest nicht directement ins Arbeitshaus, dann nur, weil sie schwanger oder syphilitisch war, was bedeutete, dass sie in der Charité landete. Und da eine kranke Hure die Charité monatlich drei Taler und acht Groschen kostete, befand Blunck sich mitunter in Begleitung eines Polizeidieners, der dafür zu sorgen hatte, dass Freudenmädchen oder Bordellwirtinnen in die Hurenheilungskasse einzahlten. Auch suchte Blunck die Privilegierten
des Gewerbes auf, und damit waren nicht etwa die schönen Demoiselles der eleganten Bordelle gemeint, die sich in feinen Wohnstraßen kaum versteckten, sondern vielmehr die Stubendirnen, denen es gelungen war, sich aus einem der billigen Häuser freizukaufen, um in einer eigenen Wohnung ihrem Geschäft nachzugehen. Sie hatten sich einer wöchentlichen Visitation durch den chirurgus forensis zu unterziehen.
    Einer von ihnen, der Bohnenkönigin, sollte heute ihr erster Besuch gelten.
    Bei allem, was Helene von Blunck erfuhr, während sie ihm von ihrem Treffpunkt, der Weidendammbrücke, an der Spree entlang bis hin zum Viertel um den Neuen Markt folgte, beschlich sie die Ahnung, dass er für rein gar nichts ihre Hilfe benötigte. Nicht einmal vor der Sektion hatte sie sich derart unwissend gefühlt.
    »Erwarten Sie nicht, dass ich Sie mit irgendetwas verschone, dafür habe ich keine Zeit«, sagte Blunck, als er den Klingelzug an einem schmalen Haus in der Klostergasse bediente.
    Eine Magd ließ sie ein, und während Helene hinter Blunck die enge Stiege hinaufging, fragte sie sich, was sich hinter dem eigenwilligen Namen der Bewohnerin dieses Hauses verbergen mochte.
    »Wenn ich Sie schon dabeihabe«, ließ Blunck vernehmen, »dann können Sie heute die Protokolle für mich schreiben.«
    Im Weitergehen zog er eine schwere Kladde aus der Schultertasche, die er bei sich trug wie ein Kurier, weil er es schätzte, in diesen Gegenden seine Hände frei zu haben.
    »Was ich Ihnen mitteile, fassen Sie unter dem Namen Amalie Reichel zusammen«, sagte Blunck, als er ihr im Flur
das Protokollbuch, Feder und Tinte übergab. »Gekürte Königin des Bohnenfestes von Hoppenrade, sie ist bis heute stolz darauf.«
    Amalie empfing sie in einem Zimmer von freundlicher Einfachheit, nichts darinnen machte einen verwerflichen Eindruck auf Helene, abgesehen davon, dass von der guten Stube der Blick auf das Bett freigegeben war. Die Bohnenkönigin war eine liebenswürdige junge Frau. Helene war sofort geneigt, sie schön zu nennen. Ihr Kleid war flammend rot und erfüllte mit seinem schwarzen Spitzenbesatz am Dekolleté und den Säumen immerhin eine Erwartung. Ihr Jargon war ebenso haarsträubend wie amüsant, und Helene lernte innerhalb der fünfzehn Minuten

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