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Wiegenlied Roman

Titel: Wiegenlied Roman Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Kerstin Cantz
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ihrer Anwesenheit ungeahnte Begrifflichkeiten. Am erstaunlichsten aber war die Scham, die Amalie gegenüber der Hebamme empfand. Von ihr würde sie sich nur zu einem Anlass zwischen die Beine schauen lassen, und der stand nicht zur Debatte. Helene musste mit dem Protokollbuch am Tisch der Stube verbleiben, während Blunck die Visitation am Bettrand des Nebenzimmers vornahm und ihr in die Feder diktierte, dass die Bohnenkönigin frei von venerischen Krankheiten war. Sie war in der Auswahl ihres Umgangs sehr umsichtig, wofür Blunck sie lobte und ihr des Weiteren Thymian-Waschungen empfahl.
    Bevor sie gingen, erhielt Helene ein unerwartetes Kompliment.
    »Schön, wie du die Haare trägst. Kurz. Ich will auf der Stelle erblinden, wenn die Idee keine Zukunft hat.«
    Insofern hatte Blunck sie doch geschont und sie als Erstes mit einer heiteren Vertreterin des Gewerbes bekannt gemacht.

    »Was geschieht mit den Kindern der Frauen?«, fragte Helene, als sie wieder auf die Straße traten, und nach einem kurzen Zögern setzte sie hinzu: »… sofern sie welche bekommen?«
    Natürlich dachte sie dabei an Sidonie, während sie die Nikolaikirche passierten, wo ein scharfer Wind ihnen entgegenkam.
    Blunck, dem das graue Haar zwischen Hutkrempe und Augenklappe flatterte, sah sie an. Sein Blick war schwer zu deuten.
    »Wollen Sie zuerst wissen, wie sie mit den Kindern verfahren, oder was sie tun, damit sie keine bekommen?«
    »Können sie denn etwas tun?«
    »Sie versuchen es«, sagte Blunck. »Mal mehr, mal weniger sorgfältig, und aus der Charité wissen Sie selbst, dass die Prostituierten mit ihren Mitteln nicht erfolgreicher sind als andere Frauen auch. Nun, welche Mittel sind Ihnen bekannt, Fräulein Heuser? Und erzählen Sie mir nicht, Sie wüssten nichts, nur weil Sie es nicht wissen dürfen.«
    »Die üblichen Mittel, um das Geblüt wiederherzustellen«, sagte Helene so gelassen wie möglich. »Absude aus Sadebaum, Raute oder Poleiminze. Ich habe gelesen, dass Safran hilfreich sein soll, oder Destillate aus Ehrenpreis und Tausendgüldenkraut, wobei ich wirklich und wahrhaftig nichts über ihre Wirksamkeit weiß.«
    »Das weiß kein Mensch«, sagte Blunck. »Die Mädchen wenden alles an, was ihnen jemals zu Ohren gekommen ist. Sie machen Waschungen, sofern es ihnen möglich ist, oder sie knien sich nach dem Beischlaf hin und niesen einige Male. Andere ziehen es vor, auf und ab zu springen. Ich habe bei den Visitationen schon die verschiedensten Dinge
in den Körpern vorgefunden. Zitronenscheiben und Granatapfelkerne, sogar gehacktes Gras. Die Abergläubischen unter ihnen schwören darauf, sich eine Alraunewurzel ins Bett zu legen.«
    »Bei Hufeland habe ich gelesen, dass gegen eine Empfängnis helfen kann, den Körper während des Beischlafs zur rechten Zeit zurückzuziehen«, sagte Helene unsicher. »Natürlich empfiehlt er es allein Eheleuten, falls der Frau eine schwere Entbindung droht.«
    Es war ungewohnt, über derlei zu sprechen, beinahe kam es ihr verboten vor, zumal sie ihr Gespräch im verrufensten Viertel Berlins auf offener Straße führten. Auch wenn Blunck ein Arzt war - mit ihrem Vater hatte sie dergleichen nie erörtert, mit ihrer Mutter allein die tödlichen Folgen fehlgeschlagener Versuche von Frauen, die im Alleingang versucht hatten, ihrer Schwangerschaft ein Ende zu setzen.
    Blunck überquerte die Gasse und gab einen verärgerten Laut von sich. »Hufeland verwirft auch das Kondom als schändliche Erfindung«, sagte er. Dann schwieg er einen Moment, als wolle er von Helene ein Zeichen abwarten, ob er fortfahren sollte.
    Sie räusperte sich.
    »Ja«, sagte sie, denn tatsächlich hatte sie auch über jene Überzüge gelesen, die aus Tierdärmen angefertigt wurden, doch ein weiteres Mal wollte sie vor diesem mit allen Wassern gewaschenen Praktiker nicht blaustrümpfig auf ihr angelesenes Wissen verweisen.
    »Die Engländer nennen sie nicht ganz ohne Grund machine .« Bluncks Auge bekam einen amüsierten Ausdruck, sofern dies von einem Auge zu sagen war, denn seine Miene blieb recht unbeweglich. »Aus England werden sie meistens von
den Matrosen mitgebracht, die sie bei ihren Bordellbesuchen zum Schutz vor der Syphilis verwenden. Zu diesem Zwecke empfiehlt man ihre Verwendung im Übrigen auch eindringlich unseren Soldaten, da die Armee hohe Ansteckungszahlen zu vermerken hat. Allerdings lässt kein Mann dieser Erde gern Tiermembranen zwischen sich und die Weiblichkeit treten, was eine Frau hingegen nicht

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