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Wiegenlied Roman

Titel: Wiegenlied Roman Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Kerstin Cantz
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Köpfe aus den Türen steckten.
    Sie hörte Blunck fluchen.

    »Sorgen Sie verdammt noch mal für Licht«, knurrte er, als Helene die Kammer betrat. Im Halbdunkel tastete sie sich zum Fenster, durch dessen geschlossene Läden trübes Tageslicht drang. Vom Bett, über das Blunck gebeugt stand, kam jetzt ersticktes Weinen.
    Helene rüttelte an den verzogenen Fenstern, bis sie sich krachend öffneten, und stieß die Läden auf. Die Sonne stieg hinter dem Kirchturm auf.
    Um Schlag elf würde ihr Vater seine Antrittsvorlesung halten, die Helene rechtzeitig zu erreichen gedachte.
    »Kommen Sie her, Heuser«, hörte sie Blunck sagen.
    Die Frau auf dem Bett lag in ihrem Blut wie in einem aufsteigenden dunklen Gewässer. Blunck hatte ihr die Röcke hochgeschlagen und kramte in seiner Tasche.
    »Licht«, sagte er. »Ich brauche mehr Licht.«
    Hilflos sah Helene sich um und begegnete dem Blick der jungen Schlesierin.
    »Ich bringe welches«, sagte sie, und während sie verschwand, um wenig später mit einem Talglicht zurückzukehren, erhielt Helene von der Invalidenlotte ein Bündel Leinzeug in die Hand gedrückt, das sie an Blunck weiterreichte.
    Sie hielt ihm das Licht zwischen die Beine der Frau, die das Bewusstsein verloren hatte. Auf dem Gang hörte sie die Huren flüstern und zischen, das Tappen nackter Füße auf der Treppe hinunter und wieder hinauf. Das schlesische Mädchen brachte Wasser in einem Bottich, den sie auf dem Boden abstellte.
    »Unten ist eines von Perditas Mädchen«, keuchte sie, »sie soll dir von Sidonie sagen, dass es verdammich losgeht.«

    Der Hörsaal war bis auf den letzten Platz besetzt. Das Wintersemester hatte begonnen, und ein neuer Gelehrter zog stets das besondere Interesse der Studierenden auf sich, wobei sich an diesem Morgen die Frage stellte, ob die Aufmerksamkeit in den Reihen des Auditoriums Professor Heuser und seiner Antrittsvorlesung galt oder vielmehr der Anwesenheit seiner Tochter, von deren inoffiziellem Studium niemand wusste. Diese Besorgnis war es, die den Dekan umtrieb, der sich gemeinsam mit Hufeland und Hähnlein am Rand der vordersten Reihe sitzend befand, um den ersten Vortrag Professor Clemens Heusers zu hören.
    Hähnlein hingegen beglückwünschte sich täglich, seit Heuser aus Marburg eingetroffen war und, jede weitere Debatte über eine bessere Unterkunft abwehrend, eine Dienstwohnung in der Charité bezogen hatte, für deren Ausstattung er nicht einmal auf einer neuen Möblierung bestanden hatte.
    Als er ihn dort besuchte, war ihm eine selbst zubereitete Tasse Tee angeboten worden, und er hatte im Stillen vermerkt, einen Tischler zu beauftragen, der die Regalwand in dem größeren der beiden Zimmer, Heusers Arbeitszimmer, erweitern sollte. Es erleichterte ihn, Heuser über die Aussicht auf Wiesen und Felder glücklich zu sehen, denn die Weite im Blick, sagte dieser, sei wichtig, um den Gedanken freien Lauf zu lassen. Nicht nur war es ihnen gelungen, den klinischen Lehrern der Universität einen weiteren bedeutenden Arzt hinzuzufügen, vielmehr empfand Hähnlein eine tiefe Sympathie für diesen ruhigen Mann.
    Die komplizierte und nervenaufreibende Entbindung der Syphilitischen hatte er mit beeindruckender Sicherheit gemeistert, und er hatte Hähnlein zu keinem Zeitpunkt ausgeschlossen.
Wie oft hatte er konkurrierende Eitelkeiten von Professoren am Geburtsbett erleben müssen, wenn sich Komplikationen einstellten. Clemens Heuser hatte darauf bestanden, sich außerhalb des Zimmers zu beraten, um die Frau nicht zu ängstigen. Ihr Kind war wassersüchtig und tot auf die Welt gekommen, die schwachen Wehen hatten sie mit einer Gabe Mutterkorn anregen müssen. Die starken Blutungen mussten im Leibesinneren mit der Hand gestillt werden, und für Heuser war es keine Frage, dass er derjenige war, der eine Ansteckung riskierte. Der aus einer Pferdeblase gefertigte englische Handschuh hatte sich wegen der allzu schmerzhaften Affektion der Geburtsteile verboten. (Indessen arbeitete Klemm, der Apotheker, für Zwecke dieser Art an der Fortentwicklung einer Handpomade nach einem Rezept der Maternité in Paris, das im Wesentlichen aus Wachs, Baumöl und kaustischem Kali bestand.) Heuser jedenfalls war aufgrund seiner umsichtigen Traktionen von jeglicher Ansteckung frei geblieben, das stand inzwischen fest.
    Hähnleins Blick heftete sich für einen Moment auf Helenes ernstes Gesicht, an deren Unterrichtung er Vergnügen empfand, und außer ihm seit Beginn des Semesters noch zwei

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