Wiegenlied Roman
erschienen, wo sie logierten. Sie hatte sich mit einer Depesche entschuldigen lassen. Dergleichen war noch nie vorgekommen. Und wenn jemand wusste, dass
eine plötzliche Migräne die faulste aller Ausreden war, dann Malvine. Ausgerechnet wenn Homberg sie begleitete, musste Elsa sich kapriziös verhalten. Ihr Gatte hatte diese Unhöflichkeit unkommentiert zur Kenntnis genommen, was gemeinhin kein gutes Zeichen war.
Madame Stopfkuchen, die sich unglücklicherweise schon wieder in Pyrmont befand, tappte, was Elsas Verbindung mit Baron von Vredow anging, ebenso im Dunkeln wie sie, das verrieten ihre geschwätzigen Briefe, denen nur beklagenswert wenig darüber zu entnehmen war, ob sich in Elsas Lebenswandel etwas verändert hatte.
Malvine wandte sich vom Fenster ab. Das Zimmer war entzückend, hell und freundlich mit seinen gelben Wänden und den fliederfarbenen Bordüren unter den hohen Stuckdecken. Die Möbel waren zierlich und auf Hochglanz poliert, die Chaiselongue neben dem schlanken Kachelofen ein behaglicher Ruheplatz, und der Toilettentisch mit seinen Tiegeln und Flakons zwischen den Fenstern musste auf jede Frau, die bei Verstand war, verführerisch wirken. Ebenso die Kleiderkammer, die Malvine ohne Scheu betrat. Oft genug hatte Elsa sie gebeten, für sie ein Kleid auszuwählen aus der ungeheuerlichen Vielzahl an Toiletten, die ihren Neid hätte erregen können, wäre sie nicht selbst eine exzellent ausgestattete Frau.
In einer halb geöffneten Schublade fiel ihr das perlenbestickte Ridikül auf, eines ihrer Geschenke an Elsa, ein Mitbringsel aus Italien, das sie mit ihrem Mann nach der Verheiratung ihrer jüngsten Tochter bereist hatte. Die Perlen stammten aus Murano. Unwillkürlich griff Malvine nach dem Beutel, als sie an Venedig dachte, und ebenso unwillkürlich zog sie ihn auf, als sie fühlte, dass sich etwas darin befand.
Ein leuchtend blaues Seidenband war lose um ein Bündel Briefe geschlungen, das sie mit flinken Fingern zutage förderte, und ihr innerer Kampf dauerte nur wenige heftige Atemzüge. Selbstverständlich hatte sie vor Jahren auch die Tagebücher ihrer Töchter gelesen, doch zweifellos war das etwas anderes. Allerdings hatte sie das beunruhigende Gefühl, dass es zu fatalen Verwicklungen kommen konnte, wenn sie nicht bald erfahren würde, was sich zwischen Elsa und Moritz von Vredow abspielte, oder schlimmer noch: was sich möglicherweise nicht abspielte.
Aus dem Mädchen, dieser Eveline, war nicht das Geringste herauszuholen, sie gab sich auf ärgerliche Weise verstockt. In Wirklichkeit, vermutete Malvine, während sie zu ihrem eigenen Beutel hastete, um ihm das Lorgnon zu entnehmen, ohne das sie keine Zeile mehr lesen konnte, war sie bestimmt nicht halb so diskret, wie sie tat.
Schon beim zweiten Brief, den sie entfaltete, zitterten ihr die Hände. Sie musste sich setzen.
Elsa hatte mit einem Mann, bei dem es sich ganz und gar nicht um Moritz handelte, mindestens eine Nacht verbracht. Mit einem Mann, dem sie im privaten Theater seines Vaters erstmalig aufgefallen war. Elsa hatte sich von dem Mann so lange hofieren lassen, bis er sie ergebenst um ein Rendezvous in einem Sommerschloss seines Großvaters gebeten hatte, und sie war der Bitte dieses Mannes gefolgt bis hin zur letzten Konsequenz. Unter dem Eindruck ihrer betörenden Zärtlichkeiten litt er im Zuge seiner Verlobung mit »dem neunmalklugen Prinzesschen aus Weimar« unter tiefster Langeweile und sehnte sich danach, in leidenschaftlichen Umarmungen mit der »süßesten aller Zofen« alles zu vergessen.
Unterzeichnet W.
Noch ehe sie sich besinnen konnte, geschweige denn ein Tüchlein hervorholen, stürzten Malvine die Tränen aus den Augen. Wie wünschte sie sich in den Zustand unbekümmerter Neugierde zurück, mit der sie noch am Morgen in der Vossischen Zeitung gelesen und dabei ihre besondere Aufmerksamkeit dem Artikel über die Verlobung Wilhelm Ludwigs mit Augusta Prinzessin von Sachsen-Weimar gewidmet hatte!
Sie musste an Gesa denken, die ihr Elsa anvertraut hatte, schon lange vor ihrem Tod. Sie dachte an Clemens, dem sie nicht mehr unter die Augen treten konnte, wissend, dass seine erstgeborene Tochter die Mätresse eines Prinzen von Preußen geworden war.
Wie konnte sie ihr das antun?
Homberg hatte Clemens für den heutigen Abend eingeladen, um mit ihnen gemeinsam in dem unglaublich imposanten Speisesaal des Hotels zu dinieren. Sie hoffte das Gespräch mit Fragen über die ersten Eindrücke ihres Freundes vom
Weitere Kostenlose Bücher