Wiegenlied Roman
hatte, warum also sollte es ihm nicht gegen die Schmerzen in seinen Knochen helfen? Er hatte befunden, dass es mindestens einen Versuch wert war, und jetzt, da er ahnte, dass die frühen Morgenstunden angebrochen sein mussten, saß er im Hemd auf dem Rand seines Bettes, von einer seltsamen Erregung erfasst. Etwas Neues würde sich in seinem Leben ereignen. Er war bereit, sich einer unbekannten Erfahrung hinzugeben.
Das Licht hatte er ein wenig höher gedreht, damit er den Schnitt an der richtigen Stelle setzen konnte, und er hob die Schüssel seines Waschgeschirrs vom Boden auf. Er legte sich zurück, denn er dachte, es würde gut sein zu liegen, und zog das Federbett über seine Beine, weil er nicht frieren wollte. Den linken Ärmel seines Nachthemds rollte er hoch bis zum
Oberarm, den er bereits lose mit einem Tuch umwunden hatte. Dann setzte er das Messer an.
Ein kleiner Schnitt, wie ein Stich.
Die Anspannung wich aus seinem Körper, sein Kopf fiel schwer in das Kissen, während das Blut warm in die Schüssel rann. Sein Blut! Erstaunlich, wie erhebend dies zu empfinden war!
In den Schatten seiner Kammer flimmerten plötzlich Sterne, und er stellte sich vor, sie seien von den Deckenmalereien in Luises Zimmer herübergeflogen, um ihn glücklich zu machen.
Und es gelang. Bild für Bild zog an seiner Seele vorüber aus den Zeiten, die er an der Seite der Königin zugebracht hatte. Das Gift seiner bösen Gedanken schien mit dem Blut seinen Körper zu verlassen, bis er wie ein helles Licht über dem marmornen Leib der toten Luise schwebte und sich über ihm die violette Seide ihres Betthimmels entfaltete. Genug jetzt.
Mit den Zähnen griff er das eine Ende des Tuches, mit der Hand das andere. Er winkelte den Arm an, wartete, bis sein Geist zur Ruhe kam und er sich klar fühlte wie schon lange nicht mehr. Schmerzlos für einen Moment. Tatsächlich leider nur für einen Moment, denn bereits als er sich angekleidet hatte, war alles beim Alten, und er war auf den Stock angewiesen wie immer.
Er lauschte auf die Geräusche der anderen, die sich plappernd in den verborgenen Gängen trafen, wie Ameisen, die sich auf den Weg machten, ihre Arbeit zu verrichten, ohne einen Gedanken daran zu verschwenden, was sie eigentlich taten.
Erst, als ihre Stimmen verklungen waren, machte er sich auf den Weg. Er löschte das Licht und verließ seine Kammer.
Langsam bewegte er sich durch die staubgeschwängerte Luft und wählte den Ausgang zu den Fluren, wo ihn das Tageslicht blendete.
Als seine Augen wieder ihren Dienst antraten, sah er den mittleren der Prinzen, den Zweitgeborenen, Wilhelm Ludwig. Er kam ihm entgegen. Ein schöner Mensch. Er hatte die Locken seiner Mutter. Und dann geschah etwas Ungeheuerliches. Er grüßte ihn und nannte ihn beim Namen.
Kaum jemals hatte er eine solche Euphorie empfunden. Sie hatte ihm ein Zeichen gesandt. Es war wie ein Ritterschlag. Hingegen ließ es ihn vollkommen unberührt, die Kutsche der Person davonfahren zu sehen. Stattdessen fühlte er sich ermuntert, Hufeland aufzusuchen, um sich gegen die Schmerzen helfen zu lassen, die ihn vor der Zeit zu einem alten Mann machten.
Die Frau aus dem Haus der kalten Pauline war am Nachmittag des vergangenen Tages gestorben, ohne das Bewusstsein wiedererlangt zu haben. Blunck, der Mensch, mit dem sie ihre letzten Worte wechselte, hatte mit dem blutigen Laken, in dem sich der Fötus befand, auch ihren Namen in der Charité zurückgelassen. Sie hieß Frieda, mehr wusste man nicht. Die Bordellwirtin hatte geschwiegen wie ein Grab. Sie gab an, die Frau in bejammernswertem Zustand vor ihrer Haustür gefunden und ihr aus purem Mitleid ein Zimmer überlassen zu haben. Es war ihr vollkommen egal, ob man ihr glaubte oder nicht.
Clemens, der die Frau namens Frieda eingehend untersuchte, nachdem Doktor Novak sie in der Entbindungsabteilung aufgenommen hatte, untersuchte auch das Lakenbündel
sehr genau. Er fand darin einen Gegenstand, den er als Pressschwamm identifizierte.
Die Entdeckung Professor Heusers warf viele verstörende Fragen auf. Noch am selben Tag schrieb er an Professor Siebold. Hatte es in der Entbindungsanstalt der Universität eine Patientin mit dem Vornamen Frieda gegeben, an der eine solche Traktion vorgenommen worden war? Hatte die Frau das Gebärhaus eigenmächtig verlassen?
»Es hat keine solche Patientin dort gegeben«, sagte Clemens, während er an Friedas Körper den Medianschnitt vornahm. »Und es wundert mich nicht, denn nach der
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