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Wiegenlied Roman

Titel: Wiegenlied Roman Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Kerstin Cantz
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Beschaffenheit ihres Beckens gab es keine Veranlassung für einen derartigen Eingriff, der noch dazu viel zu früh durchgeführt wurde.«
    Zur Sektion im Totenhaus der Charité, bei der Doktor Novak ihm assistierte, hatte Clemens drei Studenten, zwei Hebammenschülerinnen und seine Tochter zugelassen. Er wirkte ruhig und sachlich wie stets, nur Helene wusste, wie persönlich er die Sache nahm.
    Bedächtig führte er das Skalpell zwischen den beiden Fingern, mit denen er von innen die Bauchdecke anhob, um sie in einem Zug, den Nabel umfahrend, bis zur Scham zu spalten.
    Jemand stieß heftig den Atem aus, als der üble Geruch von Zersetzung dem toten Körper entwich, doch es fiel kein Wort. Niemand wagte dem konzentriert arbeitenden Professor eine Frage zu stellen, als dieser mit zwei tiefen Querschnitten rechts und links unter dem Nabel den Bauchraum gänzlich öffnete.
    Unzählige Male schon war Helene Zeugin der Kunstfertigkeit ihres Vaters gewesen, doch war dies der erste Augenblick,
in dem sie sich als wahrhaftige Kommilitonin der ahnungslosen Studenten fühlte, und als eine von ihnen richtete sie den Blick auf die Bauchfellfalte, die quer das kleine Becken durchzog. Schon als Hebammenschülerin in Wien hatte sie sich bei Sektionen auf der Seite der Ärzte gesehen, kaum zu den anderen Hebammenschülerinnen gehörig, die in Ohnmacht fielen oder würgend den Sektionskeller verlassen mussten.
    Doktor Novak hob mit beiden Händen das Bauchfell empor, in dessen Mitte der Uterus wie eine Birne eingeschlossen lag.
    »Bei unserer beklagenswerten Frieda«, sagte Clemens, »wurden die Mittel zur Auslösung einer künstlichen Frühgeburt angewendet.«
    Er nickte Helene zu. Als sie sich umwandte, sah sie unvermutet in die Augen des Anatomiedieners, der die Sektion hinter ihnen stehend verfolgt haben musste, was beileibe nichts Ungewöhnliches war. Er trat zur Seite, um sie das Glas mit dem Pressschwamm vom Instrumententisch nehmen zu lassen, wo sie es beim Betreten des Totenhauses abgestellt hatte. Sie konnte sich an seine Vermummung nicht gewöhnen, obwohl sie Verständnis dafür hatte. In ebendiesem Moment, während das Glas unter den Studenten weitergereicht wurde, war ihr der Leichengeruch unerträglich, und sie wünschte, eines von Elsas parfümierten Tüchern zur Hand zu haben, um es sich vor Mund und Nase zu binden, damit der Geruch sich nicht weiter wie ein stoffliches Wesen auf ihre Atemwege und die Zunge legen konnte.
    Bereits die äußere Untersuchung der lebenden Frieda, deren Bewusstlosigkeit die Verwendung eines Spekulums erleichtert hatte, was sich durch den komplizierten Schraubenmechanismus gemeinhin verbot, hatte das grausame Werk
eines Dilettanten ans Licht gebracht. Helene hatte es mit eigenen Augen sehen können. Novaks düpierte Miene hatte keinen Zweifel daran gelassen, dass er es für vollkommen überflüssig hielt, ihr derartige Einblicke zu gewähren. Seit Neuestem schien er fortwährend darauf zu achten, ob ihr aus der Anwesenheit ihres Vaters unangemessene Vorteile entstanden.
    »Dieser Uterus wurde bei dem Versuch perforiert«, hörte sie Clemens sagen, »jenen Pressschwamm, den Sie gerade mit dem Blut dieser Frau getränkt in Augenschein nehmen konnten, mithilfe einer Sonde in den Muttermund einzubringen.«
    Einzeln ließ er Studenten und Hebammenschülerinnen an die Zinnschale auf dem Unterleib der Toten herantreten, um das malträtierte Organ genau anzusehen.
    »Verletzungen dieser Art werden Ihnen im Laufe Ihrer Praxis als Ärzte und Hebammen nicht selten begegnen, darauf sollten Sie vorbereitet sein. Es sind zumeist die unehelich Schwangeren, die sich verführt sehen, selbst Hand anzulegen. Wenn andere Mittel, die Schwangerschaft zu beenden, versagt haben, versuchen diese verzweifelten Geschöpfe mithilfe eines spitzen Nagels oder durch das Einstoßen einer Stricknadel die Eihäute zu durchbohren. Dann finden wir ein ähnliches Ergebnis vor wie dieses hier.«
    »Manche dieser Eingriffe wurden auch von Winkelhebammen durchgeführt«, sagte Novak. Er stand Helene direkt gegenüber. »Das muss, bei allem Respekt vor Ihrem Berufsstand, leider angemerkt werden.«
    Clemens, der Novak grundsätzlich ermunterte, sich in den praktischen Unterricht einzubringen, versuchte vergeblich, seine Tochter mit einem begütigenden Blick zu warnen.

    »In diesem Fall kann davon wohl kaum die Rede sein«, sagte sie. »Dagegen sprechen allein schon die angewendeten Mittel.«
    »Es könnte sich um eine Person

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