Wiegenlied Roman
Goldkind«, sagte sie träge. »Du kannst wiederkommen, wenn du dein Balg untergebracht hast.« Sie gähnte und zog den Morgenmantel enger um sich. »Falls du dich anders entscheidest, meine Süße, solltest du lieber nicht vergessen, dass du noch eine Menge Schulden bei mir hast.«
Tunlichst sah sie an Helene vorbei.
»Hol Kaffee, Lula, und mach mir die Haare. Friedo wird bald zurück sein.«
Als Helene mit Sidonie Perditas Haus verließ, hatte sich eine Menschentraube zwischen den Häusern angesammelt. Händler aus den kleinen Läden, Waschfrauen, Mägde und Kinder, alles, was nicht mehr in den Betten lag, stand in der morgendlichen Schafskälte auf der Gasse und sah zu, wie Blunck mit dem Meiereifahrer die fiebernde Frau auf das Fuhrwerk hob.
Auch Friedo war zurück. (Seiner Gewohnheit folgend, ein frühes Dejeuner in guter Gesellschaft zu verbringen, kam er vom Hotel de Rome Unter den Linden, doch das wusste außer Perdita, die ihm dafür zuverlässig das ziegenlederne Portefeuille füllte, nur Sidonie. Seitdem dachte sie darüber nach, wie sie diesen Umstand gelegentlich für sich nutzen könnte.) Er lüftete den Hut und unterzog Helene einer gleichsam freundlichen wie unverfrorenen Betrachtung, wobei sein untrüglicher Instinkt den Stallgeruch ihrer bürgerlichen Herkunft erfasste.
»Von Trapp«, sagte er schneidig. »Habe die Ehre, gnädiges Fräulein. Wie ich sehe, eskortieren Sie unsere werdende Mutter.«
Er trat zur Seite, als Lula mit einem Kapuzenumhang auf sie zustürzte, und obwohl er Perditas gutes Stück aus mausgrauem Samt erkannte, nahm er ihn Lula ab und legte ihn Sidonie um die Schultern, bevor er ihr half, das Fuhrwerk zu besteigen.
»Ich hoffe doch, dich bald wiederzusehen«, sagte er. »Wir sollten nicht zu lange mit dem Unterricht aussetzen.«
Während Helene sich fragte, ob ihr seine Worte nur wegen des wienerischen Singsangs wie eine Drohung vorgekommen waren, verschwand Friedo mit einem süffisanten Lächeln im Haus.
Vom hinteren Teil des Fuhrwerks rief Blunck nach ihr. Er war über die Fiebernde gebeugt und fühlte ihren Puls.
»Ist es ein Abort?«, fragte sie leise.
»Der Fötus war etwa fünf Monate.«
Bluncks Falten neben den Nasenflügeln schienen noch tiefer als zuvor. Die Muskeln seines Kiefers waren angespannt.
»Wünschen Sie, dass ich mitkomme?«, fragte sie.
Er sah aus dem Wagen auf sie herab.
»Ich wünsche, dass Sie mir das Protokollbuch geben und sich auf den Weg zur Universität machen.«
Statt ihren Dank entgegenzunehmen, rief er dem Kutscher zu, er solle verdammt noch mal seinen Gaul in Bewegung setzen.
Vorn bei Sidonie griff Helene nach deren ausgestreckten Händen. Sie waren kalt, und Sidonie sah aus, als hätte sie ein Gespenst gesehen. Über ihnen schloss sich geräuschvoll ein Fenster.
»Die Negerin hat heute Nacht geträumt, dass ich zwei Kinder haben soll«, flüsterte Sidonie. »Einen Jungen und ein
Mädchen. Ich weiß nicht, warum, aber ich glaube ihr. Friedo sagt, sie hat das Zweite Gesicht.«
Mit einem Ruck setzte das Fuhrwerk sich in Bewegung.
Drei Tage war es nun her, dass Helene Sidonies angstvolle Miene auf ihrem eiligen Weg zur Universität mit sich nahm und während der Rede ihres Vaters nicht hatte vergessen können.
Sie war rechtzeitig zurück in die Charité gelangt. Nachdem sich abzeichnete, dass die Anwendung künstlicher Mittel nicht nötig sein würde, hatte Doktor Novak ihr die Leitung der Geburt überlassen. Da sich von den ersten, erneut einsetzenden Wehen bis hin zur Entbindung alle Vorgänge in rasender Geschwindigkeit vollzogen, hatte Helene auch ihren Vater nicht geweckt, obwohl dieser, nachdem ihm Sidonies seltsame Furcht vor einer Zwillingsgeburt zu Ohren gekommen war, zugegen sein wollte.
Die Geburt in den frühen Morgenstunden des sechzehnten Oktober wurde unter der Nummer zweitausenddreiundachtzig in den Charité-Journalen des Jahres 1828 als Entbindung von kürzester Dauer festgehalten. Nach heftigsten Eröffnungswehen gebar Sidonie innerhalb von zweieinhalb Stunden ein Kind weiblichen Geschlechts.
Jetzt, im Schlaf, hatte sie das Gesicht eines sehr müden Botticelli-Mädchens mit dunklen Schatten unter den geschlossenen Augen. Ihr langer Zopf schlängelte sich über die Schulter, unter der grauen Wolldecke verschwindend wie eine kupferfarbene Natter auf der Suche nach trockener Wärme. Die blassen Lippen waren leicht geöffnet und entließen ein zittriges Schnarchen.
Sidonies Tochter, ein munteres Wesen
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