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Wiegenlied Roman

Titel: Wiegenlied Roman Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Kerstin Cantz
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vom ersten Moment ihres Daseins an, schlief - eng in ein Flanelltuch gewickelt -
in Helenes Armbeuge. Sie war mit einer unglaublichen Menge kupferroter Haare geboren und vom Charité-Geistlichen auf den Namen Nelly getauft worden.
    Während Helene noch überlegte, ob sie Sidonie wecken sollte, um das Kind anzulegen, stand mit einem Mal die Pusche im Zimmer.
    »Ein Herr will dich sprechen«, sagte sie.

    Finlay sah Helene eben noch mit dem Kind auf dem Arm, bevor sie es der älteren Hebamme übergab. Als sie zu ihm auf den Gang hinauskam, hatte er das Gefühl, sie müsste ihm ansehen, was er empfand und nicht mehr zurückdrängen konnte, seit er im Hause Professor Hähnleins mit ihr auf dem Sofa gesessen hatte, während ihre schöne Schwester mit dem Vater tanzte. Er fand Helene so viel schöner als Elsa, und er hätte gern in ihr kinnlanges Haar gefasst, das sich widerspenstig nach allen Richtungen wand. Denselben Impuls empfand er auch jetzt, als er ihr in diesem eigentlich trostlosen Herbstmorgenlicht an einem Flurfenster der Charité gegenüberstand.
    Seine Postkutsche nach Hamburg ging um neun. Er hatte eine schlaflose Nacht hinter sich, die er mit Packen und Unruhe verbracht hatte, bis er plötzlich gegen sechs Uhr dreißig der spontanen Eingebung gefolgt war, zur Charité zu fahren, um sich von Helene zu verabschieden, denn mit einem Mal hatte sich der beängstigende Gedanke in ihm eingenistet, dass er, wenn er dies nicht tun würde, sie womöglich nie wiedersah.
    Finlay wollte sich ihren Anblick noch einmal einprägen, bevor er Berlin verließ. Es war erschreckend, wie schnell ein
Gesicht vor dem inneren Auge verblasste, selbst wenn man im Begriff war, sich zu verlieben.
    »Ich reise heute nach Stockholm«, sagte er.
    »Wenn Sie einen Moment warten, komme ich mit Ihnen«, sagte sie. Sein Herz machte einen Satz.
    »Mein Dienst ist für heute beendet.«
    Das kleine euphorische Missverständnis spielte für ihn keine Rolle. Er empfand es, als hätte sie ihm ein Versprechen gegeben.
     
    In den Feldern hinter der Charité hing Nebel. Helene ging an Finlays Seite auf die Mietdroschke zu, die am Straßenrand vor dem Hauptportal wartete, während er fieberhaft überlegte, wie es ihm gelingen könnte, sie zu bewegen, bis zu der Poststation am anderen Ende Berlins mit ihm zu fahren.
    »Nehmen Sie mich ein Stück mit«, sagte sie. »Ich habe zwar nicht die geringste Ahnung, wohin Sie sich begeben müssen, aber ich würde mich gern ein wenig fahren lassen in Ihrer Gesellschaft.«
    Sie saßen einander gegenüber, hin und her geschüttelt in den harten Ledersitzen der Droschke, während er ihr erzählte, dass er in Stockholm den Arzt Gustaf Cederschiöld aufsuchen wollte, der das dortige Gebärhaus leitete.
    »Der schwedische Kronprinz hat 20 000 Banktaler gespendet, die er zur Bekämpfung des Kindbettfiebers einsetzen will«, sagte Finlay.
    »Bitte schreiben Sie mir«, antwortete sie. »Ich möchte alles darüber erfahren, was man in Schweden gegen das Fieber unternimmt. Und natürlich will ich wissen, wie es Ihnen geht und ob ich Sie wiedersehen werde.«

    Sie blieb in der Droschke, als sie an der Poststation ankamen. Wie selbstverständlich hatte sie seinen Kuss erwidert, so voller Wärme, dass es ihn noch Tage und Nächte schmerzen sollte.
    Finlay zahlte den Kutscher aus und blieb stehen, bis die Droschke mit Helene nicht mehr zu sehen war.

    Malvine trank ihre zweite Tasse Tee und nahm, nachdem sie lange widerstanden hatte, vom Zuckerkuchen, der leider hervorragend war. Sie ging ans Fenster und blickte hinaus auf die Französische Straße. Sie gehörte nicht zu den Menschen, denen sich die Jahreszeiten schwer auf die Seele legen oder aber sie beschwingen, doch jetzt gerade vermisste sie es, Blätter von Bäumen trudeln zu sehen. In Marburg konnte sie aus den Fenstern ihres Hauses die Gärten überschauen, und am Kalbstor trieb der Wind das Laub der alten Baumriesen raschelnd über das Kopfsteinpflaster. Angesichts des baumlosen Trottoirs vor dem Haus der Madame Stopfkuchen empfand sie zum ersten Mal die Kühle der großen Stadt, in die sie Elsa vor wenigen Jahren stolz und mit großen Erwartungen entlassen hatte.
    Sie wartete nun schon eine Stunde, dass sie von den Proben heimkam. Sie hatte sich nicht abwimmeln lassen von dieser Eveline, die ihr vorgeschlagen hatte, später wiederzukommen, und sie würde nicht weichen, bis sie Elsa gesprochen hatte, denn sie war nicht wie verabredet zum Dejeuner im Hotel de Rome

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