Wiegenlied Roman
der Kutscher würde sich gegen ein Entgelt bereitfinden, die Charité anzufahren.
Während Blunck versuchte, die Blutungen der jungen Frau zu stillen, die das Fieber in ein erstes Delirium entsandte, war Helene einer dicken Frau namens Lula, die sich in atemloser Sorge um Sidonie befand, über die bucklige Gasse in das Haus der Perdita Roon gefolgt. Hier, wo das Halbdunkel sich etwas freundlicher gestaltete, störte niemand den Schlaf der Huren. Durch die Nachtgerüche von Zigarren, erloschenen Holzfeuern und betrunkenen Menschen kämpfte sich der Duft frisch gebrühten Kaffees. Hinter den geschlossenen Türen war hier und da ein Schnarchen zu hören, auch in Perditas Wohnung, die den Zimmern der Huren gegenüberlag, getrennt durch die abgetretene Treppe.
Sidonie saß in ihrer Kammer auf einem Schemel, stemmte die Hände in den Rücken und blies sich ächzend eine Haarsträhne aus dem Gesicht.
»Verdammich«, sagte sie. »Wie soll ich das finden, dass du ausgerechnet heute mit dem chirurgus fischen gehst?«
»Wie findest du es denn?«, fragte Helene.
Sie kniete sich vor ihr auf den Boden und führte ihre Hände mit leichtem Druck über den gespannten Leib, bis unter die Leisten. Statt einer Antwort hielt Sidonie den Atem an.
»Wie lange hast du schon Wehen?«
»Die letzten Gäste hatten sich gerade verdrückt«, sagte Lula, »da hab ich nach ihr gesehen - es war noch dunkel.«
Mit verschränkten Armen stand Lula beim Fenster. Helene bat sie um eine Schüssel Wasser, damit sie sich die Hände waschen konnte. Sie hatte den Rücken des Kindes in seitlicher Lage spüren können.
Sidonie fluchte leise unter einer weiteren Wehe.
»Hör zu«, ächzte sie, sobald Lula verschwunden war. »Was ist, wenn ich wieder in die verdammte Charité gehe, wirst du dann bei mir bleiben, bis das Kind da ist?«
Helene zögerte. Auf keinen Fall wollte sie die Vorlesung ihres Vaters verpassen. Doch sie wünschte ebenso stark, Sidonie mit sich aus diesem Haus zu nehmen, mochte es auch weniger verkommen sein als das der kalten Pauline.
Lula kam mit der Schüssel zurück und stellte sie neben Helene auf den Boden. Auch ein Stück Seife hatte sie aufgetrieben.
»Lass uns sehen, wie weit du bist.«
Helene bat Sidonie, sich an die Wand zu lehnen, und schob ihr Nachthemd hoch. Lula wandte sich ab und starrte eine Zahnbürste auf der Fensterbank an.
»Versprichst du es mir nun?«, sagte Sidonie.
Helene nickte.
Sie spürte den verstrichenen Muttermund und die Fontanelle des Kindes. Während sie ein weiteres Mal ihre Hände wusch, bat sie Sidonie, sich anzuziehen.
»Es wird noch ein wenig auf sich warten lassen«, sagte Helene. »Jetzt muss ich etwas erledigen, das ich nicht verschieben kann. Aber bis es so weit ist, Sidonie, bin ich bei dir in der Charité.«
Sie versprach es und hoffte, sie würde es einhalten können. Sidonie immerhin schien erleichtert. Sie beugte sich zu ihr herab.
»Ob es vielleicht Zwillinge sind?«
Helene, die das Protokollbuch Bluncks aufschlug und eben feststellte, dass sie Feder und Tinte zurückgelassen hatte, sah überrascht auf.
»Ich müsste mich sehr täuschen«, sagte sie. »Nichts spricht dafür.«
Helene konnte Sidonie ohne Schwierigkeiten unter dem Namen Oesterling aufspüren. Blunck hatte sie zum letzten Mal im April visitiert, ohne Befund. Offensichtlich war sie seinen Netzen zwischenzeitlich immer rechtzeitig entwischt. Erst später sollte Helene auffallen, dass auch das Datum ihrer Einlieferung in die Charité nicht aufgeführt war.
Draußen auf der Gasse waren Hufschläge zu hören und die Rufe eines Kutschers, die das Pferd zum Stehen brachten. Wenige Augenblicke später hämmerte unten jemand an die Tür. Im Haus wurde ein Fenster aufgerissen, und eine Frau ließ wüste Beschimpfungen auf die Person an der Tür niedergehen.
»Das ist die Roon«, sagte Sidonie, während sie ein verschossenes Leinenkleid über den dicken Bauch zerrte. »Nun kommst du nicht umhin, ihre Bekanntschaft zu machen.«
Perdita tauchte schlaftrunken auf, leicht taumelnd und mit platt gelegenen Haaren, die ihr in Stirn und Nacken klebten. Mit dem verrutschten Nachthemd, dem faltigen Dekolleté und schwarzen Schlieren unter den Augen erfüllte sie Helenes vage Vorstellung von einer Bordellwirtin erstaunlich präzise. Perditas Blick glitt über die drei Frauen in
der engen Kammer und heftete sich auf Sidonie, zu deren Füßen Lula kniete und ihr die Stiefel zuknöpfte.
»Denk über mein Angebot nach,
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