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Wiegenlied Roman

Titel: Wiegenlied Roman Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Kerstin Cantz
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handeln, die ihr Halbwissen einsetzt, um die Notlage einer anderen auszunutzen.«
    Novak tat nur so, als würde er laut nachdenken, wobei es ihm nicht wenig gefiel, die Aufmerksamkeit aller auf sich zu wissen. Helene empfand mit einem Mal heftigen Widerwillen gegen ihn. Wenn auch der Stabsarzt ihr zu keinem Zeitpunkt von Herzen sympathisch gewesen war, so hatte sie ihn doch respektiert. Das änderte sich soeben.
    »Mit der Methode, die man bei Frieda anwandte«, entgegnete sie, »konnte nur jemand experimentieren, dem sie aus der geburtshilflichen Literatur oder aus dem Studium der Medizin bekannt war.«
    »Was wollen Sie damit sagen?«, sagte Novak scharf. »Ist Ihnen klar, was Sie mit einer solchen Behauptung unterstellen?«
    Novaks abschätziger Blick ließ Helene ungerührt, doch die Empörung der Studenten machte ihr zu schaffen.
    »Xanthippe!«, flüsterte jemand, doch als sie aufsah, konnte sie nicht erkennen, welcher der Männer seine Beherrschung verloren hatte.
    »Meine Herren, bitte«, rief Clemens. »Spekulationen dieser Art sollten keinesfalls Gegenstand dieses Unterrichts sein, mit dem wir jetzt bitte fortfahren wollen.«
    »Jedoch sollte man uns auch nicht mit diesem Stand der Debatte allein lassen«, sagte ein Student. »Es wäre mir wichtig, Ihre Meinung zu hören, Herr Professor.«
    Schüchtern, beinahe zitternd, meldete sich eine Schülerin zu Wort.

    »Ich würde gern verstehen, warum ausgerechnet eine Hebamme so etwas tun sollte.«
    Die beiden jungen Frauen hatten sich unwillkürlich an die Seite Helenes bewegt, und natürlich wussten auch sie, dass sie die Tochter des Professors war. Clemens seufzte.
    »Weil sie darum gebeten wird, liebes Kind«, sagte er. »Weil Frauen sich in ihrer Not immer zuerst an eine andere Frau wenden werden, und jede Hebamme mit Erfahrung wird Ihnen sagen, dass sie um Hilfe angegangen worden ist, ob nun ein einziges Mal oder viele Male. Sie werden lernen müssen, sich dagegen zu verwehren, denn gleichgültig, welche Art von Unterstützung Sie einer Frau geben, um das Geblüt wiederherzustellen: Sie machen sich der Tötung eines Fötus schuldig, und immer, seien Sie versichert, setzen Sie das Leben der Frau aufs Spiel.«
    Er wandte sich an die Studenten.
    »Und nur weil Sie die Medizin als akademisches Fach studieren, meine Herren, sind Sie damit keinesfalls vor der Versuchung gefeit, gelegentlich die Geschicke über Leben und Tod einer höheren Macht entreißen zu wollen. Demut ist eine Übung, die uns allen die wichtigste sein sollte, gleichgültig, ob wir männlichen oder weiblichen Geschlechts sind. Wenn wir uns ganz in diesem Sinne nun wieder der Todesursache dieser Frau widmen könnten, würde ich Ihnen gern noch einige Details dazu erläutern.«
    Keinem von ihnen fiel es leicht, sich wieder dem Unterricht zuzuwenden, die Stimmung blieb zum Zerreißen gespannt. Helene hörte ihren Vater über die Anzeichen reden, die dafür sprachen, dass Frieda alleingelassen worden war, nachdem man ihr den Pressschwamm zur Dehnung der geschlossenen Cervix eingebracht hatte. Damit der Schwamm
seine Funktion erfüllen konnte, mussten regelmäßige Einspritzungen erfolgt sein, um ihn zu befeuchten.
    Jemand war mit Bedacht vorgegangen und gestört worden, dachte Helene. Der Brief an Elsa fiel ihr ein und die darin enthaltenen, hölzern formulierten Anweisungen. Der Brief, den Eveline bei Elsa gefunden und ihr gezeigt hatte.
    Vielleicht war es ein Fehler gewesen, ihn zu verbrennen.

    Raschelnd wich das Schilf vor dem Boot auseinander, und während sie die zierliche Gestalt der jungen Hermine von Helmer am Ufer erkannte, spürte Elsa noch immer Helenes Unruhe an ihrer Seite.
    Die Fahrt mit der Droschke, die Ausflügler über die Potsdamer Chaussee zum Anleger der Pfaueninsel brachte, hatte ihnen kaum Gelegenheit für ein vertrauliches Gespräch gegeben, und Elsa war, um ehrlich zu sein, nicht unglücklich darüber. Ohnehin hatten sie einander kaum zu Gesicht bekommen in den letzten beiden Oktoberwochen.
    Die Proben zu Christinens Liebe und Entsagung hatten begonnen, und Elsa hatte man für die Rolle der jugendlich übermütigen Königin von Schweden besetzt. Es war kein phänomenaler Aufstieg, eher ein geschmeidiger Sprung nach vorn, der niemandes Misstrauen wecken würde, und Elsa liebte ihr Kostüm aus blauem Samt, das man für sie angefertigt hatte, denn das Stück trat zum ersten Mal auf den Spielplan.
    Die Stich hatte die Besetzung zur Kenntnis genommen, ohne zerrüttete Nerven

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