Wiegenlied Roman
helfen.
»Lehnen Sie sich zurück, Madame«, sagte sie. »Ich werde mich zu Ihnen setzen.«
Sie stellte ihre Hebammentasche ab, entnahm ihr eine Flasche Lilienöl und rieb ihre Hände ein.
Die Untersuchung sagte ihr, dass die Fremde sich gegen die achtundzwanzigste Woche befinden musste. Sie war von zierlichem Wuchs, und der Umfang ihres Leibes war gering. Den Tag der Empfängnis konnte sie genau benennen, demnach sie in der dreißigsten Woche war, und alles, was sie von nun an sagte, als sie nebeneinander auf der Ottomane saßen, brachte sie flüsternd vor. Zuweilen versagte ihr die Stimme, weil sie weinen musste.
Es war nicht so, dass Helene erfuhr, was sich tatsächlich ereignet hatte, nur, dass sie sich in einer Ehe befand, in der es niemals Nachkommen geben konnte. Sie sprach nicht von Notzucht oder dass ihr Gewalt angetan worden war. Sie gab sich die Schuld an allem, ohne sie zu benennen.
»Das Schlimmste ist, dass Kinder zu haben mich glücklich machen würde«, flüsterte sie. »Doch ich befinde mich in einer Lage, die das ausschließt.«
»Was wollen Sie tun, Madame? Ich weiß nicht, wie es mir möglich sein sollte, Ihnen zu helfen. Meine Schwester sagte, dass Sie Berlin nicht verlassen können?«
»Ich weiß nicht das Geringste«, gab die Fremde leise zurück. »Ich hatte gehofft, Ihnen fiele etwas ein. Denn sehen Sie, meine Lage wird immer verzweifelter.«
Wieder flossen Tränen hinter dem schwarzen Schleier. Mit gesenktem Kopf führte die Frau ein schneeweißes Tüchlein an Augen und Nase, während sie ihr aufgewühltes Schluchzen zu unterdrücken suchte.
»Verzeihen Sie, Mademoiselle. Noch niemals in meinem Leben habe ich etwas verheimlichen oder verbergen müssen. Seit Wochen bin ich gezwungen, meine engsten Dienstboten von mir fernzuhalten. Nicht, dass es mir etwas ausmachte, mich ohne Hilfe an- und auszukleiden, allein die Angst, durch einen dummen Zufall entdeckt zu werden, lässt mich kaum noch schlafen. In einem englischen Roman las ich von einer Frau, die alle mit Hühnerblut täuschte. Wie sollte ich nur an Hühnerblut kommen? Ich hatte keine Idee. Und mich selbst zu verletzen, brachte ich nicht fertig.«
Ihre Stimme brach.
»Beruhigen Sie sich, Madame«, sagte Helene. »Ich werde sehen, wie ich Ihnen helfen kann. Doch ich muss darüber nachdenken, und es gibt einige Fragen zu klären.«
Die Fremde schwieg einen Moment und schöpfte Atem. Dann schien es Helene, als blickte sie ihr in die Augen.
»Ich glaube, dass Sie ein aufrichtiger Mensch sind, Mademoiselle. Es würde mir viel bedeuten, wenn Sie mir glaubten, dass ich meinen Ehemann aus tiefstem Herzen liebe.«
Sie erhob sich.
»Bitte bleiben Sie noch einen Moment, bevor Sie wieder zu Ihrer Schwester gehen«, bat sie. »Ich bete für eine baldige Nachricht von Ihnen, denn ohne Sie werde ich verloren sein.«
Als sie das Zimmer durch eine zweite Tür verließ, umriss taghelles Licht aus dem Nebenzimmer die Konturen der schlanken Gestalt, bevor sie im Bruchteil einer Sekunde aus Helenes Blickfeld verschwunden war.
Acht
Stockholm, 26. Oktober 1828
Meine werteste Freundin!
(Ich hoffe von Herzen, dass Sie mir diese Anrede gestatten!)
Verzeihen Sie, wenn ich meinen Brief nicht mit Schilderungen Stockholms und seiner Bewohner beginne, das würde ich liebend gern von Angesicht zu Angesicht nachholen, denn ich möchte doch sehen können, ob ich Sie gut unterhalte.
Auch weiß ich, dass Sie neugierig sind, etwas über die Methoden des schwedischen Kollegen Doktor Cederschiöld zu erfahren, die er im Kampf gegen das Wochenbettfieber im Allgemeinen Entbindungshaus von Stockholm zur Anwendung bringt.
Die Hauptsache seines Vorgehens liegt darin, dass er die erkrankten Frauen auf einer eigenen Abteilung isoliert, was ihm die Größe des Hauses gestattet. Die großzügige Spende des schwedischen Königshauses nutzte man unter anderem dafür, die Gebäranstalt umfangreich mit Bettzeug und Nachthemden auszustatten, sodass jedes Wäschestück, welches mit einer erkrankten Person in Berührung kam, verbrannt werden kann. Des Weiteren erhält jede Wöchnerin
ihr eigenes Waschgeschirr zur persönlichen Benutzung, ihr eigenes Stück venezianischer Seife und Handtücher. Das tägliche Waschen mit Seifenwasser ist hier für alle Frauen Pflicht, und wenn sie es selbst nicht verrichten können, weil das Fieber sie schwächt, dann tun es die Hebammen.
Für Cederschiöld ist es keine Frage, dass wir es beim Puerperalfieber mit einer contagiösen,
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