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Wiegenlied Roman

Titel: Wiegenlied Roman Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Kerstin Cantz
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einer ansteckenden Krankheit zu tun haben. Darin ist er einer der wenigen Kollegen, der mit mir einer Meinung ist, während die Mehrzahl - wie Sie zweifellos wissen, kluge Freundin - es vorzieht, dem Glauben an todbringende Miasmen anzuhängen, die sich in der Luft übertragen.
    In diesem Hause nun ist angeordnet, dass jeder, der mit den vom Fieber ergriffenen Patientinnen zu tun hat, seien es Ärzte, Hebammen oder Krankenwärterinnen, nach jeder Berührung die Hände zu waschen hat und am Ende des Dienstes die Kleider zum Räuchern geben muss (was die Einrichtung spezieller Kammern zur Folge hat, in denen man sich umkleiden kann).
    Es ist erschütternd und schwerlich zu verkraften, in unserem Wirken selbst die Keime dieses Fiebers von einer Frau zur anderen übertragen zu haben, doch wir erreichen nichts, wenn wir weiterhin die Augen davor verschließen.
    Im Stockholmer Gebärhaus hat man mit diesen Methoden gerade im Juli einer sich anbahnenden Epidemie sehr erfolgreich entgegengewirkt. Insofern habe ich von Cederschiöld viel Erhellendes erfahren können. Allein die Ursachen des Fiebers geben ihm das gleiche schwere Rätsel auf wie uns allen.

    Ich werde noch einige Tage bleiben, und bevor ich meine Schiffspassage für die Rückreise kaufe, liegt mir eine Frage auf dem Herzen, die nur Sie beantworten können, liebe Freundin.
    Hierzu ist es nötig, Ihnen ein Geständnis zu machen, und auch wenn es Ihnen vermessen erscheint und Sie weder meinen Brief beantworten noch mich daraufhin jemals wieder zu sehen wünschen, ich muss und will Ihnen sagen, dass kein Tag vergeht, ohne dass ich meine Begegnungen mit Ihnen Revue passieren ließe.
    Wie ich Sie zum ersten, zum zweiten, zum letzten Mal sah und wie sehr Sie mein Innerstes berührten. Bislang war mir nicht bewusst, wie sehr ich es lieben könnte, mich mit einer Frau auf Augenhöhe auszutauschen, ihre Gedanken zu hören, ihr Interesse zu spüren, ihre Äußerungen als etwas anderes wahrzunehmen als lediglich eine Form der Höflichkeit oder als Schule gebildeter Konversation. Jene höheren oder auch weniger hohen Töchter Europas, die ich traf, diese armen Geschöpfe, wie habe ich mich mit ihnen gelangweilt und sie sich mit mir!
    In unmittelbarem Zusammenhang mit meinen Offenbarungen, die Sie möglicherweise befremdlich finden werden, steht die Notwendigkeit, nach London zurückzukehren, zur Erledigung einer Sache, die ich schon zu lange herausgeschoben habe. Doch zuvor, und bitte glauben Sie mir alle Dringlichkeit, die ich in meine Worte lege, muss ich Sie sehen und sprechen ! Ich würde, wenn Sie damit einverstanden sind, einen Umweg über Berlin nehmen, um Ihnen etwas zu sagen, was ich Ihnen brieflich nicht mitteilen will.

    Darf ich kommen?
    Bitte antworten Sie mir schnellstmöglich.
    Immer Ihr Finlay Gordon
    Es war schön, an Finlays Brief zu denken, den sie umgehend beantwortet hatte. Es wärmte ihr jedes Mal das Herz, wenn sie ihn las, und das tat sie inzwischen täglich mindestens einmal. Sie wollte Finlay sehen, sie freute sich darauf, und manchmal, wenn sie sich ihre baldige Begegnung vorstellte, ging ihr Puls schneller.
    Was er ihr wohl mitzuteilen hatte?
    Helene legte die Feder nieder. Sie hatte ihr Diario vervollständigt, bevor ihre Gedanken zu Finlay geflohen waren.
    Zwei weitere Frauen waren in der Charité mit Verletzungen, an denen Frieda gestorben war, eingeliefert worden. Eine von ihnen brachte Blunck, die zweite, eher ein Kind mit ihren siebzehn Jahren, wurde von einem chirurgus forensis eingewiesen, der in der Friedrichstadt seinen Dienst versah. Das Haus der Markgräfin - in ihrem Fall war die Straße, in der sich ihr Etablissement befand, Namens gebend - war bekannt dafür, dass dort besonders kindliche Frauen zu finden waren. Herren der Gesellschaft mit einer Vorliebe für Entjungferungen kamen dort ebenso auf ihre Kosten wie jene, denen es gefiel, sich durch die Jugend der Mädchen, die sie bezahlten, in einer anregenden Verquickung von Reinheit und scheinbar naturgegebener Lüsternheit inspirieren zu lassen.
    Das Mädchen war unfassbar schön. Auf der Frauen-Pflegeabteilung der Charité erfuhr sie daher zeit ihres schnell davonhastenden Lebens noch jede Menge zärtlichen Bedauerns.
Sie rührte jeden bis hin zur kaltschnäuzigsten Krankenwärterin. Sie hatte den Körper eines Engels, weiß und glatt. Sie schien so unschuldig, dass alle, die an der Sektion teilnahmen, zutiefst betroffen waren. Zum ersten Mal hatte Helene die Hand ihres Vaters

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