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Wiegenlied Roman

Titel: Wiegenlied Roman Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Kerstin Cantz
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versäumt hatte. Es konnte sie weder trösten und erst recht nicht beruhigen.
    Das furchtbarste Geheimnis jedoch, das zu betrachten Helene sich scheußlich schämte, war, wie sehr eine befremdliche Art von Ehrgeiz sie seit Neuestem antrieb. Längst nämlich hatte sie heimlich begonnen, die Idee zu lieben, ihr eigenes Handeln den unsäglichen Taten des Engelmachers als etwas Gutes gegenüberzustellen.
    Es war ein Verrat an ihren Eltern. Es war ein Verrat an allem, was sie jemals gelernt hatte, dessen war sie sich schmerzlich
bewusst. Und doch gab es diese Stimme, die ihr zuredete, genau das zu tun, was sie im Begriff war zu tun.
    Warum?
    Möglicherweise setzte es sich aus der Summe all dessen zusammen, was sie im Marburger Gebärhaus, was sie in Wien und in der Zusammenarbeit mit ihrer Mutter gesehen hatte. Wie früh hatte sie an ihrer Seite begriffen, dass es zwischen einer Frau in der Oberstadt und einer anderen in den Armenvierteln unterhalb der Stadtmauern nicht den geringsten Unterschied gab, wenn sie sich in Kindsnöten befand, wenn sie ihr sechstes, zehntes oder elftes Kind in Folge zu gebären hatte, tot oder lebendig, den Bestimmungen ihrer Physis ausgeliefert, die mal mehr, mal weniger gut für diese erbarmungslose Aufgabe der Natur geschaffen war.
    Sie hatte Frauen flehen hören nach Mitteln, das Monatliche wiederherzustellen, weil ihnen die Kraft für ein weiteres Kind fehlte. Ihre Mutter hatte sie gelehrt, Unterredungen mit Ehemännern zu führen, um getrennte Schlafkammern auszuhandeln.
    Gemeinsam mit ihr hatte sie in die verständnislosen, verstockten Gesichter der Männer geblickt, die fanden, dass es ihr Recht war, ihre Frauen jederzeit zu beschlafen, wenn sie sich danach fühlten, selbst wenige Tage nach der Niederkunft, auch wenn die Lochien noch flossen. Es gab auch die anderen, zutiefst betroffenen Ehemänner, solche, die sich auf der Stelle Vorwürfe machten und untröstlich waren. Doch es gab sie nicht allzu oft.
     
    Eine Droschke, der zwei Frauen mit einem Kind entstiegen, erregte Aufsehen in einer Gegend, wo die Leute im Allgemeinen mit Fuhrwerken und Handkarren unterwegs waren.
Das hell getünchte Haus war eines in einer Reihe von vielen, die sich in die Windschatten der mehr als dreißig Loh- und Getreidemühlen duckten. Das rhythmische Poltern, das hölzerne Krachen und Rumpeln der Flügel lag wie ein dumpfes Gewitter über dem Hügel vor dem Prenzlauer Tor.
    Sie waren in einer passenden Umgebung gelandet, wenn man bedachte, dass Müller von jeher als unehrliche Zeitgenossen galten, wegen ihrer Vertrautheit mit Wind und Wasser vielleicht, was bedeuten konnte, dass sie mit dem Teufel im Bunde waren. Auch mit dem Verlust des Volumens zwischen Korn und Mehl hatte es seine unvermeidliche Bewandtnis und wies den Müller als einen Charakter aus, dem nicht zu trauen sein konnte.
    Das Misstrauen also, konnte man meinen, lag über dem Mühlenberg in der Luft, doch andererseits, und im durchwirbelten Licht des Novembermorgens betrachtet, war davon rein nichts zu spüren.
    Helene wies den Kutscher an zu warten, nahm Sidonie das Kind ab und gab ihr den Hausschlüssel.
    Das Feuerholz war gehackt und geschichtet, das Herdfeuer vorbereitet, es musste nur noch entzündet werden. Der Lehmboden war gefegt, und die Gardinen an den kleinen Fenstern, konnte man meinen, rochen noch nach der Bleiche. Sogar eine Wiege war angeschafft worden, und an den Deckenbalken hatte man eine Vorrichtung aus Leintuch anbringen lassen, worin mittels eines Zugseils gleichzeitig ein zweites Kind in den Schlaf geschaukelt werden konnte.
    Wen immer auch Friederike Köpke mit dem Geld der Fremden ausbezahlt hatte, dieser Mensch hatte mit freundlichen Händen gute Arbeit geleistet. Helene selbst begegnete der Witwe in diesen Tagen nur noch im Treppenhaus oder
in der Eingangshalle des Hauses. Von gemeinsamen Mahlzeiten konnte derzeit keine Rede sein.
    Sidonie war längst die Stiege hinaufgepoltert, um die beiden oberen Kammern in Augenschein zu nehmen. Ausrufe hemmungsloser Freude begleiteten ihre Besichtigung. Sie begeisterte sich über einfachste Dinge, die nun ihr gehören würden, in denen sie sich ihr neues Leben mit zwei Säuglingen einrichten sollte.
    Helene fachte das Herdfeuer an und zog Sidonies Tochter das Häubchen vom Kopf. Mit der Wange fuhr sie über den rotblonden Flaum des Kindes, nahm seine tröstliche Wärme und den säuerlichen Säuglingsgeruch in sich auf wie ein Kraft spendendes Mittel, während über ihr

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