Wiegenlied Roman
der angeschlossenen Poliklinik unseres Gebärhauses zwei Frauen Aufnahme fanden, die unter heftigsten Blutungen in Fieberkrämpfen starben. Die Leichenöffnung an beiden ließ uns perforierte Uteri vorfinden sowie bei einer der Schwangeren einen in den Muttermund eingebrachten Pressschwamm, der dort mit einem Draht zurückgehalten worden war.
Meinen Vater haben diese Fälle ebenso wie mich über alle Maßen aufgebracht. Wir fragten uns, welcher Mensch es gewagt haben könnte, an jenen Frauen mit dilettantischem Halbwissen zu experimentieren und sie auf diese schändliche Weise zugrunde zu richten. (Es handelte sich im Übrigen um Prostituierte, vielleicht mag es eine Rolle spielen, dies zu erwähnen.)
Als ich den Wunsch äußerte, in Erfahrung zu bringen, ob sich in der Charité Frauen eingefunden hatten, an denen ähnliche Traktionen vermutet werden konnten, (was sich durch Ihre Depesche beantwortete), hatte ich
mich mit seinem heftigsten Widerspruch abzufinden. Kaum etwas fürchtete mein Vater mehr, als dass ein Schatten auf den hervorragenden Ruf seines Hauses und, ja, auch auf seinen eigenen Namen fallen könnte. Er wünschte keinen Schulterschluss mit der Charité. Ich bedauerte dies mehr als alles andere, fürchtete ihn jedoch in seiner angegriffenen Konstitution durch meine Gegenrede noch weiter zu schwächen.
Das Schicksal wollte es, dass heute in den frühen Morgenstunden eine weitere Frau mit den erwähnten Symptomen in der Poliklinik ihr Leben ließ. Daher will ich mich nun umgehend an Sie wenden, um zu erfahren:
Gab es indessen weitere Fälle dieser Art in der Charité?
Müssen wir glauben, dass es einer unserer Studenten ist, der in einem gründlichen Missverständnis unserer Wissenschaft in zynischer Weise sein Unwesen treibt und sich dabei der Frauen bedient, die ihm als die wertlosesten erscheinen?
Es ist ein so abgrundtief erschütternder Gedanke, der mir seit Wochen keine Ruhe lässt.
Ihrer Antwort sehe ich in banger Erwartung und gleichsam in der Hoffnung auf einen vertrauensvollen Austausch entgegen und verbleibe Ihr ergebenster
Caspar von Siebold
Mit Helene, Novak und zwei Studenten fortgeschrittenen Semesters stand Clemens im überheizten Entbindungszimmer der Charité am Geburtsbett Caroline Kittels. Graupelschauer verdunkelten den Tag, und während die Hebamme Pusche eine letzte Öllampe entzündete, schob er der Schwangeren ein weiches Kissen unter den Nacken.
Schon bevor ihn der Brief des jungen Siebold erreichte, hatte Clemens sich in größtem Zweifel darüber befunden, ob er jemals wieder einen Eingriff dieser Art zu Lehrzwecken in Anwesenheit von Studenten und Hebammen durchführen sollte. Hähnlein, der Clemens in langen Unterredungen beschworen hatte, sich von den Schuldgefühlen freizumachen, die er bei seinem empfindsamen Kollegen wahrnahm, war nun ausgerechnet heute nicht abkömmlich, da er zu einer privaten Patientin gerufen worden war, einer primiparis der höchst empfindlichen Sorte, deren gesamte Familie sich bereits seit Wochen in Aufruhr befand, nachdem eine Tante von einer Totgeburt geträumt hatte.
Die Depesche des jungen Siebold hatte Clemens zwar nicht eben trösten können, jedoch einer Gemeinschaft erinnert, in der sie als Ärzte und Gelehrte bedingungslos zusammenfinden mussten. Und so hatte er Hähnlein, der zu allem bereit war, sofern Clemens nur seinem Lehrauftrag nachkommen würde, wie er es für die Charité erhoffte, die Vorbereitung einer Zusammenkunft von geburtshilflichen Ärzten der Charité und des Gebärhauses abgerungen. Zudem schwebte ihm vor, zweckmäßige Mittel zur Vermeidung des Kindbettfiebers zu diskutieren, denn während sie derzeit kein weiteres Opfer des Engelmachers zu beklagen hatten, befand sich die Entbindungsabteilung noch immer im Würgegriff des Fiebers.
Die anwesenden Studenten, von Hähnlein mit Bedacht ausgewählt, hatten ihm ihre Diarien vorlegen müssen, und mit beiden hatte er persönliche Gespräche geführt, um sich ihrer Redlichkeit zu versichern, bevor er sie zuließ.
Clemens winkte die beiden jungen Männer an seine Seite und bat die Schwangere mit einer leichten Berührung ihrer
Knie, die Beine zu spreizen. Caroline Kittel, die vierundzwanzigjährige, magere, aber doch gesunde Frau eines Farbenmachers, hatte in den vergangenen Jahren vier Kinder schwer geboren, drei davon tot. Ihr äußerst schmales Becken mit zudem ungünstigen Neigungswinkeln machten die Traktion unumgänglich.
»Haben Sie keine Angst, wenn Sie
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