Wiegenlied Roman
Sidonie die Schuhe von den Füßen warf. Dem hölzernen Ächzen nach zu urteilen hatte sie sich soeben auf eines der Betten fallen lassen, die sich dort oben befinden mussten.
Denn darauf hatte Helene bestanden, dass es zwei Betten im Hause geben musste, alles andere wäre ihr degoutant vorgekommen - was im Übrigen ein Lieblingswort Hersilie Stopfkuchens war.
Während sie sich fragte, ob Sidonie das zweite Bett wohl überhaupt erstaunen würde, musste sie an Hersilies beharrliche Nachfragen denken, wann denn ihr Vater endlich wieder einmal Zeit finden würde. Sie würde doch so gern ein Diner für ihn geben!
Bei ihrem letzten gemeinsamen Frühstück mit Elsa - wie lange mochte dieses zurückliegen … fünf Tage … sieben? - war Hersilie wie zufällig mit den neuesten Mustern ihrer Seidenmanufaktur hereingeschneit und hatte ihre Herzensfrage so beiläufig wie möglich gestellt, doch das Beiläufige war ihr nicht recht gelungen. Sie hatten lachen müssen, hinter
dem Rücken dieser warmherzigen Person, und jetzt, als Nelly hungrig an Helenes Finger zu saugen begann, lächelte sie wieder darüber, während ihr das Herz vor Liebe überfloss für Elsa, die derzeit so abwesend wirkte, so durchsichtig, schöner denn je, und die sie nicht nach den Gründen dafür zu fragen wagte, weil sie fürchtete, eine Antwort zu erhalten, die sie beunruhigen könnte.
Insofern gab es ein unausgesprochenes pari zwischen ihnen. Denn auf Helenes Mitteilung, dass sie eine Amme für das Kind der Fremden gefunden hatte, folgte von Elsas Seite nicht eine einzige Frage. So hatte Helene über die Herkunft geschwiegen. Warum auch sollte sie Elsa damit beschweren?
Sie würden einander nie begegnen.
Berlin, 14. November 1828
Verehrtester Kollege Heuser!
Aus tiefstem Herzen danke ich Ihnen für die wertschätzenden, Anteil nehmenden Worte, die Sie in Ihrem so freundlichen Brief an mich und meine Mutter fanden. Wissend, welchen Verlust Sie selbst erst vor Kurzem erleiden mussten, konnte ich Ihr Verständnis für unsere Lage als so sehr wahrhaftig und tröstend empfinden.
Nun haben wir, die Söhne unseres Vaters, Ärzte wie er, über die Jahre sehen müssen, wie er immer anhaltender von Krankheiten befallen war, die ihn außerordentlich schwächten.
Dass er sich unablässig alles bis zum Äußersten abverlangte, was seine Arbeit anbetraf, dass er gegen sich noch härter als gegen andere war, mag einer der Gründe dafür gewesen sein, dass weder sein alljährlicher Aufenthalt bei den Heilquellen in Kissingen noch eine nachgeschobene Traubenkur in Würzburg seinen erneuten Beschwerden die erhoffte Wendung gaben.
Nur eine Woche vor seinem Tode führte er seine letzte geburtshilfliche Operation durch.
Es handelte sich um die Einleitung einer künstlichen Frühgeburt bei einer Frau, die in ihrer Kindheit stark an der englischen Krankheit gelitten hatte. Vermutlich demzufolge war ihr Becken in der Conjugata der oberen Apertur stark verengt.
Ich darf hoffen, sehr verehrter Kollege, dass Sie mir an dieser Stelle den raschen Übergang zur Beantwortung Ihrer drängenden Frage gestatten wollen, ohne mich als kaltherzigen Charakter zu empfinden.
Zur Entschuldigung meiner späten Antwort mögen Sie die Erklärung gelten lassen, dass man mir indessen provisorisch (!) den Lehrstuhl für Geburtshilfe übertragen hat, damit ich provisorisch (!) die Leitung des Gebärhauses übernehmen kann. Mir ist durchaus bewusst, dass der Wind vom Ministerium her mir nicht eben warm unter die Flügel fahren will.
Meinem Vater hat man bis heute nicht verziehen, dass er für die Universität eine eigene Geburtsklinik gefordert und erhalten hat, anstatt die akademische Lehre weiterhin mit der Charité verbunden zu lassen. Ich sehe mich beinahe täglich von Aspiranten besucht, die ihre Begehrlichkeiten kaum verbergen. Die Reihe
hochkarätiger Bewerber reißt nicht ab, indessen ich die Privatpraxis meines Vaters fortführe, die sich immerhin derart einträglich gestaltet, dass ich Pferde und Wagen beibehalten konnte. Auch führe ich die Herausgabe des Journals für Geburtshilfe fort und schreibe an einer Geschichte zur Entstehung des Gebärhauses der Königlichen Universität zu Berlin.
Die Wahrheit ist, dass mich all dies, was mich nahezu sechzehn Stunden des Tages beschäftigt, nicht von gewissen Geschehnissen ablenken kann, die mein Innerstes schmerzhaft zu treffen wussten.
Schon vor Wochen hätte mir daran gelegen, Ihnen Mitteilung darüber zu machen, dass in
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