Wiener Requiem
verkündete Gross dröhnend.
»Ihr Widerspruch ist nicht durch das geltende Recht gedeckt, Werthen«, erklärte jetzt Drechsler. »Ein solches Anwalt-Klient-Privileg existiert in Österreich nicht. Aber ich nehme zur Kenntnis, dass Sie keine Auskünfte geben wollen.«
»Ich sollte wirklich zunächst mit Mahler Rücksprache halten.«
»Gott weiß, wann er dazu in der Lage sein wird«, meinte Gross. »Mahler hat gesagt, dass er zum jetzigen Zeitpunkt dankbar für jeden Hinweis ist, der zur Erfassung der Person führt, die für diese Angriffe verantwortlich ist. Das hat er Ihnen sogar persönlich mitgeteilt, als er aus dem Zug getragen wurde.«
Natürlich wusste Werthen, dass Drechsler recht hatte. Im österreichischen Recht war die Garantie der Vertraulichkeit und der Verschwiegenheit für Gespräche zwischen dem Anwalt und seinem Mandanten nicht festgeschrieben, so wie es in England und anderen Ländern der Fall war, aber das musste sich in Zukunft ändern. Welcher Mandant würde in strafrechtlichen Belangen seinem Anwalt volles Vertrauen schenken, wenn er wusste, dass dieser gezwungen werden konnte, der Seite des Klägers Informationen zukommen zu lassen? Keiner. Jedenfalls keiner, der noch alle seine Sinne beisammen hatte. Aus diesem Grund konnte ein Anwalt der Geschichte seines Mandanten nie ganz trauen, und eine Verteidigung wurde dadurch umso schwieriger. Gross war jahrelang als Ermittlungsbeamter und auch als Staatsanwalt tätig gewesen und stand in diesem Fall natürlich nicht auf der Seite Werthens. Nur war jetzt weder der richtige Ort noch der richtige Zeitpunkt, eine solche Grundsatzdiskussion zu führen.
»Um es kurz zu machen«, lenke Werthen ein. »Mahler wollte in seinem Testament festlegen, dass seine Schwester Justine von einer Erbschaft ausgeschlossen würde, sollte sie Herrn Arnold Rosé heiraten.«
Drechsler stieß einen leisen Pfiff aus. »Und sie wusste davon?«
»Das kann ich Ihnen leider nicht sagen«, antwortete Werthen.
»Können Sie es nicht, oder wollen Sie es nicht?«, hakte Drechsler nach.
»Ich weiß diesbezüglich tatsächlich nichts. Die Villa Kerry ist kein sehr großes Haus. Justine Mahler könnte die Unterredung zwischen ihrem Bruder und Tor mitbekommen haben.Fragen Sie doch bei Ihrem Beamten nach, der dort Wache hielt, ob er Mahlers Schwester vor der Tür hat herumstreichen sehen.«
»Was ist mit den Bediensteten?«, fragte Gross. »Es muss doch einen Koch oder ein Dienstmädchen geben.«
Drechsler und Werthen schüttelten beide den Kopf.
»Mahler wollte auf dem Land keine Bediensteten um sich haben«, erklärte Werthen. »Er behauptete, er könnte nicht komponieren, wenn sie in seiner Nähe wären. Die Sommer dort widmete er allein dem Komponieren.«
»Seine Schwester und Frau Bauer-Lechner übernahmen die häuslichen Pflichten«, fügte Drechsler hinzu. »Vielleicht ist es ja an der Zeit, dass wir uns einmal genauer mit dieser Schwester und ihrem Verehrer unterhalten.«
»Aber gehen Sie taktvoll vor, Herr Kommissar«, ermahnte ihn Gross. »Immerhin ist ihr Bruder gerade erst vergiftet worden.«
»Ja, und sie selbst könnte es gewesen sein.«
Werthen schüttelte seinen Kopf. »Bevor Sie sich zu sehr in die Idee verbeißen, dass das Testament ein Motiv darstellen könnte, möchte ich Ihnen nur mitteilen, dass Herr Mahler kein reicher Mann ist. Er verfügt zwar über seine Einkünfte als Hofoperndirektor, aber seine Lebenshaltungskosten sind nicht gerade gering. Aus seinen früheren Engagements in Hamburg oder Budapest hat er keinerlei Ersparnisse mitgebracht, und als Komponist verdient er mit seinen Sinfonien und Liederzyklen nur sehr wenig. Vielleicht ändert sich das in der Zukunft, aber im Moment jedenfalls ist das nicht der Fall. Insofern ist die Enterbung seiner Schwester mehr ein symbolischer Akt, als dass er wirklich schwerwiegende Folgen hätte.«
»Für Herrn Rosé liegt die Sache aber etwas anders, stimmt’s, Werthen?«
Werthen wusste nicht genau, worauf Gross mit dieser Bemerkung abzielte.
»Sein Bruder Eduard«, fuhr Gross fort, »der die andere Schwester Mahlers geheiratet hat, ist geradezu aus Wien vertrieben worden, weil er keine Arbeit mehr hat finden können. Unser Herr Mahler ist eifersüchtig und rachsüchtig. Er sieht jeden als Feind an, der seine Pläne durcheinander bringt oder seine häusliche und kreative Routine stört. Vielleicht fürchtete Arnold Rosé, dass ihm dasselbe Schicksal drohte, und er hat Maßnahmen ergriffen, um dies zu
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