Wiener Requiem
mitseiner Schreibhand zu kratzen. Der junge Mann verschwand mit ihrem Formular in einem Labyrinth von Holzregalen, in denen sich eine beachtliche Ansammlung voluminöser grauer Aktenordner drängte.
Nachdem Werthen erzählt hatte, er habe von Rosé gehört, dass es einige Gerüchte um die vielleicht nicht rechtmäßige Geburt des zweiten Sohnes gegeben hatte, bestand Gross darauf, nach der Geburtsurkunde zu forschen.
Während sie warteten, dachte Werthen wieder darüber nach, wie die Information über Mitzi Paulus an den Mörder gelangt sein könnte. Vielleicht war es so wie bei Herrn Gunther, dass der Mann bislang Unerledigtes zu Ende führen wollte, indem er jeden denkbaren Zeugen seiner Verbrechen beseitigte. Demnach hätte er sich an die junge Frau erinnert, die sich ihm genähert und ihm in sein ausdrucksloses Auge geschaut hatte. Er kannte ja ihre Ecke, an der sie zu finden war. Aber würde sie tatsächlich mit ihm gehen? Schließlich hatte sie ausgesagt, dass sie ihn wiedererkennen würde. Er hatte sie eingeschüchtert, als sie ihn das erste Mal gesehen hatte. Und jetzt hatte sie gewusst, dass er von der Polizei gesucht wurde. Man konnte davon ausgehen, dass sie dann noch viel ängstlicher gewesen wäre.
Oder es war so, wie sie schon länger vermuteten, dass der Täter nicht allein arbeitete. Er konnte jemanden zu Mitzi Paulus geschickt haben, einen Fremden, der mit ihr einig wurde und die drei Fluchten knarrender Stufen zu ihrer Dachkammer über dem Kohlmarkt hochstapfte, um ihr dann die Kehle aufzuschlitzen, nachdem sie sich ausgezogen hatte und hilflos war.
Ihr Rachegott war ein wirklicher Hundesohn, kein Mensch. Wie viele Menschenleben hatte seine Jagd auf Mahler schon gekostet? Drei unschuldige Opfer.
»Hier gibt es nichts über einen Karl Rott.« Der Beamte war zurückgekehrt, aber nicht mit leeren Händen. »Ich habe aber etwas über Hans Rott gefunden. Da ich ohnehin gerade beim Buchstaben ›R‹ war, habe ich nachgeschaut.«
»Aber wir suchen nicht nach Hans«, sagte Gross missbilligend.
»Das habe ich durchaus verstanden, meine Herren. Da Sie aber vom Prinzen Montenuovo selbst entsandt wurden, dachte ich mir, dass Sie ein wenig Gründlichkeit zu schätzen wüssten.«
»Sehr richtig«, erwiderte Gross und versuchte, seine Unruhe im Zaum zu halten. »Vergeben Sie meinen schroffen Ton.«
»Ist schon in Ordnung, mein Herr. Die meisten unserer Besucher schenken mir keinerlei Beachtung, so als sei ich nur ein Teil des Inventars. Ich weiß es dennoch zu schätzen, wenn meine Sorgfalt nicht unbemerkt bleibt.«
»Vielleicht könnten Sie uns einfach darüber informieren, was Sie gefunden haben, da Sie es nun gefunden haben«, sagte Gross ungeduldig.
Der Beamte drückte den Ordner fester an seine Brust. »Also, hier wird ein Hans Rott erwähnt, der Erstgeborene des Schauspielers Karl Matthias Roth, woraus später Rott wurde, und einer Maria Rosalia Lutz, einer Sängerin. Ein später angefertigter Zusatz zeigt an, dass er einen Halbbruder hatte, der den Namen Rott annehmen durfte.«
»Halbbruder?«, sagte Werthen. »Wessen Kind war er dann?«
Der junge Beamte errötete bei diesen Worten. »Hier steht geschrieben, dass der Ordner dieses Bruders im kaiserlichen Hausarchiv steht. Vielleicht kann Prinz Montenuovo Ihnen diesbezüglich weiterhelfen.«
Werthen war sofort klar, was dies zu bedeuten hatte. Der jüngere Bruder war höchst wahrscheinlich das illegitime Kind der Maria Lutz und eines Mitglieds der königlichen Familie.
»Sie glauben also, es sei wichtig?«, fragte Prinz Montenuovo, nachdem Gross den Grund ihres Besuches genannt hatte.
»Es ist unerlässlich, Euer Gnaden«, sagte Gross.
»Dies ist nicht gerade die Art von Information, die Wir gerne veröffentlicht sehen.«
»Es könnte sich um unseren Mörder handeln, denselben Mann, der auch für die Mordversuche auf Mahler verantwortlich ist«, warf Werthen ein. Sie hatten keine Zeit für Etikette.
»Verstehe«, erwiderte Montenuovo. Er lehnte sich in seinem Stuhl zurück, schaute zu einem Fresko zweier tanzender Putten an der Decke über seinem Barocktisch und schnalzte dann ganz unhoheitsvoll mit der Zunge.
»Also dann. Wenn Sie bitte draußen warten würden. Mein Diener wird sich darum kümmern.«
Zehn Minuten später wurde ihnen die Geburtsurkunde des Wilhelm Karl übergeben, geboren am 20. Dezember 1860, der später den Familiennamen Rott trug. In der Urkunde wurde als der wirkliche Vater der Erzherzog Wilhelm genannt, einer
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