Wiener Requiem
und dabei von der Existenz eines jüngeren Bruders Rotts erfahren, der wohl nicht unbedingt zur besten Sorte Bürger gehörte.«
Gross klatschte in seine fleischigen Hände. »Aha, jetzt kommen wir weiter!«
16. KAPITEL
Dass die Kirchenglocken so früh läuten, kam Werthen sonderbar vor. Es war noch vor Morgengrauen, als er diesen vermeintlichen Angelus hörte. Seine Schläfen pochten, und sein Mund fühlte sich trocken an. Es war wohl ein Glas Sekt zu viel zur Feier am Abend gewesen.
Bis er merkte, dass nicht die Glocken läuteten, sondern sein Telefon klingelte, war es zu spät, aber kurz danach klopfte es nachdrücklich an seiner Schlafzimmertür.
Berthe drehte sich schlaftrunken um. »Was ist das, Karl?«
»Es ist nichts, Liebling. Schlaf nur weiter.«
Er stand auf, zog seinen seidenen Morgenmantel an und ging zur Tür.
Es war Gross. Er wirkte übernächtigt, ein paar Stirnfransen seines Tonsurschnitts standen wirr vom Kopf ab, und er sprach leise, aber mit großer Dringlichkeit.
»Ziehen Sie sich an. Unser Mann hat wieder zugeschlagen.«
Sie lag auf dem Rücken in einer Lache getrockneten Blutes. An der klaffenden Wunde am Nacken saßen schon die ersten Fliegen. Drechsler schlug mit seinem Hut, einer Melone, nach den lästigen Insekten.
»Das gefällt mir ganz und gar nicht!«, stieß er hervor. »Ich nenne Ihnen den Namen der jungen Frau und wo sie ihre Bleibehat, und als Nächstes höre ich von ihrem Tod. Wem haben Sie davon erzählt?«
»Und mir gefällt Ihre Unterstellung ganz und gar nicht, Kommissar. Ich habe niemandem davon erzählt. Nicht einmal Gross. Das habe ich schlicht und einfach vergessen. Es ist mir etwas anderes dazwischen gekommen.«
»Werthen!«, fuhr Gross auf. »Wie konnten Sie nur, Mann? Hätte ich von ihrer Existenz gewusst, würde diese junge Frau vielleicht noch leben.«
Diese Bemerkung war so absurd, dass noch nicht einmal Drechsler etwas dazu sagte.
Sie standen in der Dachstube von Mitzi Paulus, deren Namen Drechsler tatsächlich am Tage zuvor Werthen gegenüber erwähnt hatte. Ein Polizist hatte das kleine Fenster aufgerissen, aber die Gerüche über dem Kohlmarkt waren kaum angenehmer als die im Raum: ein Gemisch von billigem Parfüm, menschlichem Schweiß und getrocknetem Blut. Um sich davon abzulenken, berichtete Werthen Gross kurz, dass diese junge Frau angeblich den Mann identifizieren konnte, den sie in der Nacht der Ermordung von Herrn Gunther gesehen hatte.
Dann wandte er sich an Drechsler und sagte: »Ich gehe davon aus, dass Ihr Beamter nicht noch einmal mit ihr sprechen konnte?«
»Das ist richtig«, erwiderte Drechsler mürrisch. »Aber wie zum Teufel hat er herausgefunden, dass wir mit Hilfe dieser Prostituierten auf seiner Spur waren?«
Gross seufzte. »Sie arbeitete in einem gefährlichen Milieu. Vielleicht handelt es sich bei diesem Mord ja nur um ein zufälliges Zusammentreffen von Opfer und Täter.« Das sagte erohne jede Überzeugungskraft; es war klar, dass er selbst nicht daran glaubte.
»Denken Sie nach, mein Herr«, beharrte Drechsler. »Es muss jemanden gegeben haben, der davon wusste. Vielleicht hat jemand unser Gespräch mitgehört?«
Werthen fiel lediglich ein, dass Herr Tor an der Bürotür erschienen war, als Drechsler das Büro verließ. Konnte er etwas gehört haben? Aber das war völlig absurd. Der graumäusige Tor war wohl kaum zu einem Mord fähig. Werthen erwähnte also nichts von Tor und ging stattdessen lieber in die Offensive.
»Man könnte genauso gut annehmen, dass Ihr Gendarm zu vielen Freunden von seinem großen Erfolg erzählt hat. Oder Sie selbst haben bei unpassender Gelegenheit davon gesprochen, und jemand hat es aufgeschnappt?«
»Ich muss schon sagen, Herr Drechsler«, fügte Gross hinzu, »dass ich Werthen hier von ganzem Herzen zustimme. Warum sollte er der Schuldige sein?«
»Meindl wird toben vor Wut.«
»Das ist Meindls Problem, nicht unseres«, sagte Gross.
Mit Hilfe des Briefes von Montenuovo erhielten Werthen und Gross Zutritt zum k.u.k. Hofarchiv in der Hofburg und präsentierten dort einem kränklich aussehenden Beamten im weißen Kittel ihre Anfrage wegen einer Geburtsurkunde. Sie suchten nach Aufzeichnungen über einen Karl Rott, der ungefähr 1860 geboren war. Rosé hatte gesagt, dass der Bruder von Hans Rott, der Jahrgang 1858 gewesen war, etwa zwei Jahre jünger sein musste.
Der Beamte hatte einen Tintenfleck am rechten Ohrläppchen, der wohl von seiner Gewohnheit herrührte, das Ohr
Weitere Kostenlose Bücher