Wiener Requiem
enormes Gebäude und stand auf einem Gelände von mindestens 76.000 Quadratmetern, das an die Ringstraße und die extravagante Kärntnerstraße grenzte. Werthen sah allerdings auch den entscheidenden Makel der Hofoper: Sie war von Gebäuden umgeben,die den freien Blick darauf verstellten. Und es führte auch kein breiter Boulevard auf sie zu wie bei der Pariser Oper.
Berthe versäumte keine Gelegenheit, Werthen daran zu erinnern, dass die Entstehungskosten von sechs Millionen Gulden gereicht hätten, um mindestens sechs Wohnhäuser für Arbeiter zu bauen. Darin hätten dann einige Hundert der Tausenden von Arbeitern, die für Hungerlöhne schuften mussten, eine Bleibe finden können. Die sogenannten
Bettgeher
mieteten Betten an und konnten diese nutzen, während die Wohnungsmieter ihrer Arbeit nachgingen. Andere waren auf die öffentliche Wohlfahrt und Aufwärmräume angewiesen. Am schlimmsten war es um die vielen Tausend bestellt, die auf Parkbänken schlafen oder gar in der weitverzweigten Kanalisation leben mussten.
Glücklicherweise gab es um diese Zeit noch keine Schlangen von Wartenden vor dem Fenster einer Arkade. Ein paar Stunden später schon würden Männer, Frauen und auch Kinder die Vorverkaufskasse belagern, um sich die besten Plätze zu sichern. Schwarzhändler in geflickten Paletots würden Eintrittskarten zu Wucherpreisen anbieten und immer einen Liebhaber der Oper finden, der verzweifelt genug auf eine Vorstellung aus war, dass er den Preis akzeptierte.
Wie verabredet wartete am Eingang Herr Regierungsrat Leitner, der dritte Verantwortliche der Wiener Hofoper nach dem Stellvertretenden Kämmerer Prinz Montenuovo und dem Intendanten Baron Wilhelm von Menkl. Werthen hatte vor dem Verlassen seiner Wohnung am Telefon nur kurz angedeutet, dass er Mahlers Anwalt sei, und schon hatten die Gedanken des Regierungsrates zu rotieren begonnen. Sah sich die Hofopereiner Klage wegen grober Fahrlässigkeit gegenüber? Werthen unterließ es geflissentlich, den Mann von dieser Vermutung abzubringen.
Nachdem man sich höflich vorgestellt hatte, lächelte Leitner, ganz höherer Beamter, und plauderte etwas herablassend, während er den beiden über die große Treppe zum Zuschauerraum voranschritt. Leitner war von mittlerer Größe und trug an diesem warmen Tag einen schwarzen doppelreihigen Kammgarnanzug mit einem hohen gestärkten Kragen. Werthen hatte sich dagegen für eine grüne Trachtenjacke aus Leinen entschieden. Ein Blick auf den höheren Beamten genügte, um mitfühlend in Schweiß auszubrechen. Es war erst Anfang Juni, doch es lastete bereits eine Hitzewelle auf der Stadt.
Leitner schien die Hitze jedoch nichts auszumachen. Sein graumeliertes Haar war kurz geschnitten, er schien allerdings am Morgen nicht genug Zeit gehabt zu haben, es gründlich zu kämmen. Er trug einen kurzen, ebenfalls leicht ergrauten Bart. Mit seinen braunen Augen fixierte er sein Gegenüber eindringlich, was Werthen bereits beim Betreten des Zuschauerraums bemerkt hatte. Insgesamt machte Leitner den Eindruck eines Herrn, der es gewohnt war, Befehle zu erteilen.
»Und wie ich schon andeutete, ereignete sich der Vorfall ganz plötzlich. Aber ich versichere Ihnen, die medizinische Versorgung wurde sofort sichergestellt …«
Diese Worte wirkten kalkuliert, fast unterwürfig und standen in deutlichem Gegensatz zu Leitners äußerer Erscheinung. Werthen warf einen verstohlenen Seitenblick zu Berthe hinüber, um festzustellen, ob sie es auch bemerkt hatte. Ihr Blick war jedoch in die Höhe gerichtet; sie betrachtete den enormen Saal, den sie gerade betreten hatten. Werthen folgte ihremBlick. Nie zuvor war er während des Tages in der Hofoper gewesen. Allerdings drang auch keinerlei Tageslicht in diesen gewaltigen, mit Gold nur so prunkenden Raum. Seit zehn Jahren war die Hofoper elektrifiziert; der Raum wurde durch den Glanz Hunderter von Glühbirnen hoch oben im zentralen Leuchter erhellt. Ein Irrlicht, kaum sichtbar inmitten all der Helligkeit, brannte noch immer mit Richtung auf die Zuschauerränge, als wollte es böse Geister vertreiben.
Der Saal war wahrhaftig riesig; er bot fast dreitausend Zuschauern Platz. Der Orchestergraben wurde von Logen und Galerien hufeisenförmig eingerahmt. Die vierte Galerie unter der Decke war so weit von der Bühne entfernt, dass die Sänger darauf ohne die Hilfe eines Opernglases wie Zwerge erschienen. Dorthin waren die musikhungrigen, aber mittellosen Opernliebhaber verbannt. Die kaiserliche Loge
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