Wiener Requiem
passierte.
Einen Moment wirkte er verlegen, dann fuhr er fort: »Ich würde es übrigens zu schätzen wissen, wenn Sie Mahler gegenüber meine Anwesenheit hier nicht erwähnen würden.«
Werthen fand dieses Ersuchen zwar merkwürdig, wollte aber gerade zustimmen, als Leitner fortfuhr: »Herr Mahler ist ziemlich … eigen, was die Loge betrifft. Wir nennen es eigentlich die Loge der Verwaltung, er jedoch hält es eher für sein Privateigentum. Wenn er sie nicht in Anspruch nimmt, soll sie ungenutzt bleiben.« Er schürzte die Lippen und blinzelte ihnen zu. »Ich bin sicher, Sie haben Verständnis für meine Bitte.«
Dann führte er sie zurück zum Korridor und bog nach links ab. Hier schien es nicht mehr weiter zu gehen.
»Ein kleines Geheimnis«, sagte er und versuchte ein gewinnendes Lächeln. »Bitte nicht verraten.«
»Selbstverständlich nicht«, antwortete Werthen.
Leitner betätigte einen gut versteckten Türknauf in der Wandund öffnete dann mit einem Ruck eine kleine Tür, die sie vorher nicht bemerkt hatten. Die Tür führte direkt hinter die Kulissen auf eine metallene Plattform, die gut sechs Meter über der Bühne schwebte.
»So hat man direkten Kontakt zur Bühne und gleichzeitig auch etwas wie einen Balkon, um Befehle zu geben«, erklärte Leitner.
Von diesem Balkon führte eine kleine Metalltreppe im Zickzack herunter auf die Bühne.
Sie gingen hinab. Werthen und Berthe fanden sich erneut in einem riesigen Raum wieder. Tatsächlich war dieser noch größer als der Zuschauersaal auf der anderen Seite des Vorhangs. Der Raum hinter der Bühne war mehrere Stockwerke hoch und so tief, dass man sein Ende nur ahnen konnte. Überall liefen Männer umher; sie zogen große Kulissen mit Hanfseilen, andere kletterten wie Seeleute hoch oben in den Tauen, um sie zu lösen. Wieder andere gaben laute Anweisungen, wo die zwei- und dreidimensionalen Bühnenrequisiten aufzustellen seien.
»Sehen Sie dort, unsere rotierende Bühne«, sagte Leitner.
In diesem Moment registrierte Werthen die große runde Scheibe im Bühnenboden, die mindestens zwanzig Meter im Durchmesser maß. Ein Teil davon ragte über das Proszenium hinaus, der Rest verschwand hinter der Bühne.
»Sie ist auf einem Sockel aus Metall unterhalb der Bühne befestigt«, erklärte Leitner. Seine Stimme hatte eine gewisse Schärfe, die verriet, dass er solche Errungenschaften nicht gutheißen konnte. »Der Sockel wiederum ruht auf gut geölten Kugellagern, wodurch er fast geräuschlos arbeitet. Natürlich wird er elektrisch betrieben. Für Herrn Mahler muss alles auf dem neuesten Stand der Technik sein.«
Die Installation war genial, das musste Werthen zugeben. Er hatte von der ersten Drehbühne in München aus dem Jahre 1896 gelesen. Mit ihrer Hilfe war es möglich geworden, mehrere Szenenwechsel schon vor der Vorstellung auf der Bühne vorzubereiten, um dann nur noch einen Schalter betätigen zu müssen, und das neue Szenenbild erschien über dem Proszenium, während die anderen im Hintergrund der Bühne versteckt blieben.
»Natürlich ist eine derartige Vorrichtung für ein Haus mit einem überschaubaren Repertoire bestens geeignet, aber doch nicht für eine Institution wie die Hofoper«, erklärte Leitner. »Wie Sie sich vorstellen können, sind die Kosten immens. Für jede Produktion müssen eigene Bühnenbilder gebaut werden, da sie ja in das chinesische Puzzle der Drehbühne passen müssen. Aber die Kosten interessieren Herrn Mahler offensichtlich überhaupt nicht. Er beschließt diese Dinge über meinen Kopf hinweg mit Montenuovo, und das im Namen der künstlerischen Notwendigkeit.«
Werthen erkannte die Boshaftigkeit in Leitners Stimme, und auch der Herr Regierungsrat schien dies zu bemerken, weil er seine Kritik abrupt unterbrach und Werthen und Berthe ein gewinnendes Lächeln zuwarf.
»Aber das ist ja wohl kaum das, was Sie heute interessiert, nicht wahr?«
Nach weitern zehn Minuten hatten sie endlich Blauer hinter der Bühne gefunden. Für die Angestellten der Kaiserlichen Hofoper war die Arbeitswoche nicht wie für die übrigen Wiener am Samstagmittag beendet, sondern sie mussten an beiden Tagen des Wochenendes zur Verfügung stehen; die Vorstellungen gingen vor. Blauer führte gerade einen neuen Bühnenarbeiterin die Feinheiten der Arbeiten auf dem Schnürboden ein, als Leitner die beiden zu ihm führte.
»Ich werde mich jetzt verabschieden«, sagte Leitner. »Ich versichere Ihnen, der unglückliche Vorfall geht nicht auf ein
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