Wiener Requiem
direkt gegenüber der Bühne nahm zwei Etagen ein, allerdings wurde sie vom Herrscher nur selten benutzt. Vor allem seit die Kaiserin gestorben war.
Überall glänzte das vergoldete Dekor und ließ alles noch prachtvoller erscheinen. Werthen war tief beeindruckt, auch wenn er ansonsten eher das Schlichte schätzte.
»Ja«, erklärte Leitner. »Es ist wirklich herrlich.«
Seine Bemerkung erforderte keine Erwiderung, überbrückte jedoch den unangenehmen Moment des Schweigens.
»Es ist wunderschön«, erwiderte Werthen schließlich.
Leitner nickte und rieb sich dabei aufmunternd die Hände.
»Hier entlang.« Er führte sie durch den Mittelgang, an den Stuhlreihen im Orchestergraben vorbei auf die Bühne.
»Herr Mahler hatte ganz genaue Vorstellungen von der Position seines Pultes. Wir haben mehrfach den gesamtenOrchestergraben angehoben und wieder abgesenkt, um die entsprechende Stelle zu finden.«
Werthen und Berthe blickten in den Graben, konnten aber kein Dirigentenpult sehen, sei es nun angehoben oder abgesenkt.
»Herr Mahler ist ein großer Erneuerer«, fuhr Leitner fort. »Vor seiner Zeit stand der Dirigent direkt neben dem Rampenlicht. Jahn«, das war Mahlers unmittelbarer Vorgänger gewesen, »gab sich damit zufrieden, von einem Korbstuhl inmitten des Orchesters aus zu dirigieren. Aber für Herrn Mahler ging es immer um die äußerste Präzision.«
Für Werthen hörte sich dies eher nach einer Vorhaltung als nach einem Lob an.
»Schließlich entschied er sich dafür, das Pult etwas erhöht in die Nähe der Streicher zu stellen. Er bestand darauf, Sänger
und
Orchester zu dirigieren und nicht etwa nur die Sänger auf der Bühne.«
»Und was geschah nun genau?«, fragte Werthen, ermüdet von Leitners Seitenhieben.
»Es passierte gestern bei der Nachmittagsprobe. Alles verlief ganz ruhig. Ich beobachtete die Proben aus der zweiten Loge im zweiten Rang, es handelt sich um die Loge der Verwaltung. Mahler hatte dort sogar ein Telefon installieren lassen, um jederzeit mit der Bühne und dem Graben in Kontakt treten zu können.«
»Und?« Werthen ließ nicht locker.
»Nun«, Leitner spreizte die Hände. »Dann passierte es eben. Einfach so, aus heiterem Himmel.«
»Es?«, fragte Berthe und lächelte, weil sie merkte, dass Werthen dieselbe Bemerkung auf der Zunge gelegen hatte.
»Ja, also … der Unfall eben.«
»Haben Sie ihn gesehen?«, fragte Werthen.
»Nein, habe ich nicht. In eben diesem Moment galt meine ganze Aufmerksamkeit der neuen Soubrette, die wir nach dem unglücklichen Tod von Fräulein Kaspar eingestellt haben. Ich hörte einen kolossalen Donner, dann rang jemand nach Luft, und man rief um Hilfe. Natürlich lief ich so schnell wie möglich hinunter. Herr Mahler lag noch auf dem Rücken, als ich eintraf.«
»Das Pult war einfach zusammengebrochen?«, fragte Werthen.
»Offensichtlich. Das hat mir zumindest Herr Blauer erklärt.«
»Und Herr Blauer ist wer?«
»Siegfried Blauer ist unser Inspizient. Er ist für alles verantwortlich, was sich hinter dem Vorhang abspielt.«
Werthen sah noch einmal in den Orchestergraben, bemerkte aber nichts anderes als den leeren Fleck, wo eigentlich das Dirigentenpult hätte stehen sollen.
»Wird es gerade repariert?«
Leitner sah ihn verwirrt an.
»Das Pult, meine ich«, fuhr Werthen fort.
Leitner seufzte. »Nein, nein. Noch nicht jedenfalls. Danach müssen Sie Herrn Blauer fragen. Herr Richter hat das Dirigat übernommen, solange Herr Mahler indisponiert bleibt. Er bevorzugt den Stuhl im Orchester, und morgen endet unsere Spielzeit.«
»Schon, aber wo ist das Pult jetzt?«
Wieder die ratlose Geste Leitners. Werthen war sich jetzt sicher, dass das äußere Erscheinungsbild des Mannes wirklichtäuschte. Leitner war nur ein Bürokrat, aber einer, der alle Formen bürokratischer Täuschung beherrschte, so die Kunst, seine Verantwortung auf andere Schultern abzuladen.
»Das soll heißen, Herr Blauer weiß es?«, erkundigte sich Berthe mit einem sarkastischen Unterton.
»Sicherlich«, antwortete Leitner. Sein Mund verzog sich zu einem schmalen Lächeln. »Sie wissen ja, er ist für alles zuständig, was hinter dem Vorhang geschieht.«
Leitner führte sie auf einem kleinen, umständlichen Rundgang durch das Gebäude, bis sie endlich hinter die Bühne gelangten. Sie verließen den Saal durch eine Seitentür, nahmen die Treppe in den zweiten Rang, wo er ihnen die Loge der Verwaltung zeigte. Dort hatte er sich aufgehalten, betonte er, als der Unfall
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