Wiener Requiem
»Genau. Haben Sie einmal als Bühnenarbeiter gearbeitet?«
Die Frage ließ Werthen erröten. Er bemerkte ein Lächeln Berthes hinter vorgehaltener Hand.
»Nein«, antwortete er höflich. »Ich habe mich nur vorab gründlich informiert.«
Blauer sprach weiter. »Sein Name war Redl. Er bekam die einfachsten Anweisungen nicht in seinen Kopf. Nach dem Vorfall mit dem eisernen Vorhang habe ich ihn dann endgültig hinausgeworfen.«
»Sie behaupten also, dass Herr Redl für das Herunterfallen des eisernen Vorhangs verantwortlich war?«
»Er hat das natürlich abgestritten. Aber ich habe mir hinterher die Taue angesehen. Sie waren alle falsch zusammengeklammert. Der Mann war ein Idiot.«
»Und wo könnte man Herrn Redl finden?«
Voller Verachtung pfiff Blauer durch die Lippen. »Bestimmt nicht hier in der Nähe. Hätte nirgendwo mehr im Kaiserreich eine Arbeit gefunden. Wenn man dem Bühnentratsch glaubt, ist er nach Amerika ausgewandert, wo niemand nach seinen Arbeitspapieren fragt. Viel Glück werden Sie bei dem nicht haben.«
Der Tag war immer noch angenehm warm, und so entschieden sich Werthen und Berthe, zu Fuß zu Mahlers Wohnung zu gehen.
»Du bist doch bestimmt hungrig, Liebling«, sagte Werthen, als sie die Hofoper verließen.
Spitzbübisch lächelte sie ihn an. »Soll das heißen, du bist hungrig?«
»Ich versuche nur, mich wie ein vollendeter Gentleman zu benehmen.«
»Wenn es um deinen Appetit geht? Mir war gar nicht klar, dass die Regeln der Schicklichkeit auch hier gelten.«
»Was wir jetzt jedenfalls brauchen, ist ein gemütliches kleines Lokal, einen Teller mit einem Wiener Schnitzel und ein kühles Glas Veltliner. Einverstanden?«
Berthe stimmte begeistert zu und ergriff seine Hand. »Dann geh voran, du Hungriger.«
Werthen führte sie zum Operncafé, wo sie tatsächlich eine gemütliche kleine Ecke abseits der Laufkundschaft fanden. Wenig später schon wurden ihnen Teller mit großen Scheiben panierten Kalbfleisches serviert, das großzügig über den Tellerrand ragte. Dazu wurde Kohlsalat mit Kümmel und scharfer Essigsoße gereicht. Der Veltliner war so kühl, dass die Gläser beschlugen.
Schweigend genossen sie ihr Mahl und überließen sich dem Geschmack und Duft der Speisen.
»Was hältst du von ihm?«, fragte Werthen schließlich.
»Von wem? Leitner oder Blauer?«
»Leitner ist einfach zu enträtseln.« Werthen schwenkte die Gabel herum bei dem Gedanken: »Blauer scheint mir der Schwierigere der beiden zu sein.«
»Ein moderner Mann«, verkündete Berthe.
»Blauer? Mit dem Backenbart?«
Sie nickte und legte für einen Augenblick Messer und Gabel auf den Tellerrand.
»Er hat sich ganz allein hochgearbeitet. Der ist ohne BeziehungenBühnendirektor der Kaiserlichen Hofoper geworden. Er hat bestimmt vor Ehrgeiz die Abendschule besucht, und hart gearbeitet hat er eh immer. Du hast gehört, wie er seinen Tonfall verändern konnte.«
»Aber ist er auch ehrlich?«
»Das, mein Lieber, ist sehr schwer zu entscheiden.«
»Das Dirigentenpult steht für eine Untersuchung nicht zur Verfügung, ein Bühnenarbeiter, der etwas über den ersten Unfall aussagen könnte, ebenfalls nicht. Das ist alles ein bisschen zu günstig, würde ich sagen.«
»Für wen?«
»Für die Person, die Mahler umbringen will.«
»Du nimmst also die Geschichte von Fräulein Schindler für bare Münze?«
»Nein«, erwiderte er, »Ich nehme die Tatsachen für bare Münze.«
Am Nachmittag trafen sie in Mahlers Wohnung ein. Diesmal schien die Schwester des Komponisten sich offensichtlich nicht selbst bemühen zu wollen, die Tür zu öffnen. Ein Dienstmädchen machte stattdessen auf, eine drahtige kleine Person in frisch gestärktem blauen Dienstkleid und Schürze. Bei seinem früheren Besuch hatte Werthen diese Frau nicht gesehen, sie war aber offenkundig über seine bevorstehende Ankunft informiert worden. Genauso deutlich war auch ihre Überraschung darüber, dass er in Begleitung erschien. Sie blickte von Werthen zu Berthe und schnappte kurz nach Luft.
»Herr Werthen und Gemahlin sind bei Herrn Mahler angemeldet«, verkündete er möglichst lautstark in der Hoffnung, dass der Klang seiner Stimme bis in die inneren Gemächerdringen und weitere durch Berthes Anwesenheit ausgelöste Überraschungen beschwichtigen würde. Werthen hatte die Erfahrung gemacht, dass andere Frauen in einem von einer Schwester des Hausherrn geführten Haushalt generell nicht willkommen waren. Justine Mahler hatte bei ihrer
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