Wiener Requiem
Gross ihrer Arbeit nachgingen. Der größte der drei Männer, dessen stark geäderte, scharlachrote Nase vermuten ließ, dass er sich einen großen Teil der jährlichen Burgenländer Weinernte einverleibt hatte, machte einen etwas geistesabwesenden Eindruck und hatte seine massigen Arme herausfordernd über seinem Bauch gefaltet.
Werthen wusste nicht genau, wonach sie überhaupt suchen sollten. Doch Gross bestand auf einer Ermittlung, denn es war ihnen gelungen, sehr frühzeitig am Tatort einzutreffen, wodurch sie diesen noch vor Beginn der offiziellen polizeilichen Untersuchung in Augenschein nehmen konnten. Sie verdankten dies der persönlichen Gunst von Inspektor Drechsler, den Werthen bislang noch nicht kennengelernt hatte. Als Drechsler im Frühjahr zu einem Weiterbildungskurs nach Czernowitz gesandt worden war, hatte sich zwischen dem Wiener Inspektor und Gross eine kollegiale Beziehung entwickelt, die allerdings stark von Konkurrenz bestimmt und rein beruflicher Natur war.
Als Gross gestern den Inspektor über den »Fall« Mahlerunterrichtet hatte, wies Drechsler korrekterweise darauf hin, dass es ohne Verbrechen auch keine Morduntersuchung geben konnte. Der Tod von Fräulein Kaspar war als Unfall zu den Akten gelegt worden. Natürlich war dieser Umstand Gross bekannt, und er hatte Drechsler auch nicht in der Erwartung informiert, dass die Polizei sich aktiv beteiligen würde. Er wollte vielmehr einen direkten Draht zur Wiener Polizei aufbauen, um informiert zu werden, sobald es zu weiteren Vorfällen rund um die Oper kommen würde.
Der Tod von Friedrich Gunther war ein solcher Vorfall. Gunther gehörte zu den Wiener Philharmonikern und war dritter Geiger im Orchester der Hofoper.
Er war am Morgen gegen neun Uhr, mit einer hellgrünen Gardinenkordel um den Hals am Messing-Kronleuchter in seinem Wohnzimmer hängend, von seiner Putzfrau entdeckt worden. Unter ihm lag ein umgekippter Esszimmerstuhl. Als Werthen und Gross eintrafen, war der Leichnam noch nicht abgehängt worden. Werthen hatte sich fast übergeben müssen, als er das rotblaue, geschwollene Gesicht vor sich sah.
Gross dagegen war fasziniert von der sacht baumelnden Leiche; er näherte sich ihr, betrachtete sie von allen Seiten und untersuchte den Teppich unter dem Toten mit einer starken Lupe, die er seiner allgegenwärtigen Spurensicherungstasche entnahm. Dabei murmelte er vor sich hin, untersuchte den Teppich noch genauer und warf dann einen schnellen Blick auf den größten der drei Wachmänner, der noch immer seine Arme vor sich verschränkt hatte.
»Ich nehme an, dass sie Schuhgröße siebenundvierzig tragen, Herr Gendarm.«
Dies war keine Frage.
Der Polizist riss sich aus seiner Lethargie und nickte fast schon argwöhnisch.
»Sie haben einen der einfachsten Grundsätze der Tatortbesichtigung verletzt: Tritt nicht auf den Beweisen herum.« Gross’ Stimme wurde lauter.
»Ich wusste gar nicht, dass es ein Verbrechen ist, sich selbst umzubringen … Herr.« Der Blick des Gendarmen funkelte unverschämt.
»Das reicht, Schmidt«, warnte Drechsler den Mann und fuhr dann an Gross gewandt fort: »Sie sind von der nächsten Polizeiwache hierher beordert worden. Ich konnte sie gerade noch davon abhalten, den Mann abzuschneiden.«
»Wir dachten, der Kronleuchter würde gleich von der Decke reißen«, erklärte Gendarm Schmidt sich verteidigend.
Gross taxierte den Zustand des Kronleuchters. »Da er den ersten Ruck überstanden hat, wird er auch noch länger halten.« Er blickte vom Stuhl zu den Stiefeln des Opfers, die vor ihm in der Luft hingen. »Haben Sie irgendetwas angefasst? Etwas verrückt? Den Stuhl zum Beispiel?«
Schmidt schüttelte den Kopf. Der andere Polizist stand einfach stumm neben ihm.
»Meine Herren?« Gross deutete auf die anderen beiden.
»Nein, mein Herr«, erwiderten die beiden einstimmig.
Gross entnahm seiner Spurensicherungstasche ein Maßband und Kreide, während Werthen die Atmosphäre des Raumes in sich aufsog.
Offensichtlich war Gunther Junggeselle gewesen. Schon die Größe des Zimmers und seine Einrichtung hätten es ihm verraten, selbst wenn die noch immer in Tränen aufgelöste Putzfrau es nicht bereits ausgesagt hätte. So würde beispielsweisekeine Frau diese billigen Stilmöbel akzeptiert haben, mit denen Gunther seine Wohnung vollgestellt hatte. Durch einen kleinen Bogengang zur Linken gelangte man ins Esszimmer. Dunkle, im mittelalterlichen Stil bemalte Stühle waren rund um den deutlich helleren
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