Wiener Requiem
seines ›von‹ und des Reichtums der Familie. Und er fuhr fort, mich wegen meiner Wertschätzung Mahlers zu belästigen. So fragte er ständig, wie es denn meinem ›jüdischen Liedmeister‹ ginge. Offen gesagt, seine Andeutungen interessieren mich nicht im Geringsten. Hinzu kommt noch, dass er wirklich fürchterlichen Mundgeruch hat.«
»Ich glaube nicht, dass er dafür zu belangen ist, mein Fräulein«, antwortete Gross.
»Das habe ich auch nicht andeuten wollen«, erwiderte sie ernsthaft.
»Ich bin Ihnen dankbar, dass Sie mit diesen zusätzlichen Informationen zu uns gekommen sind, Fräulein Schindler. Wir werden Herrn von Trattens Namen auf die Liste der zu befragenden Personen setzen.«
»Mahler könnte also tatsächlich in Gefahr schweben?« Ihre Augen funkelten bei dieser Vorstellung.
»Wir nehmen diese Angelegenheit jedenfalls sehr ernst«, erwiderte Gross.
»Wundervoll.« Sie sprang auf und reichte Gross ihre Hand. »Ich bin ja so erfreut, dass Sie jetzt mit der Angelegenheit befasst sind, Herr Dr. Gross. Ich bin sicher, Sie werden die Sache schon in Ordnung bringen.«
Und schon war sie hinaus, entschwand in einem Rauschen von Kleidern und einer Wolke ihres Dufts. So weltliche Dinge wie etwa ein zu entrichtendes Honorar wurden selbstverständlich nicht besprochen.
»Wahrlich eine Kraft, mit der man rechnen muss«, sagte Gross, nachdem die äußere Tür geschlossen worden war.
Berthe nickte.
»Ich möchte wirklich nicht der Mann sein, den sie ins Visier nimmt«, fuhr Gross dann fort. »Er dürfte ihr kaum entkommen.«
Später am Tag saß Berthe allein im Büro ihres Mannes, um die Bewerbungen durchzusehen, die auf eine Anzeige im
Österreichischen Rechtsjournal
eingegangen waren, mit der sie ein neues Mitglied der Kanzlei suchte, das auf Testamente und Treuhandangelegenheiten spezialisiert war. Es gab vier vielversprechende Kandidaten, aber nur einer davon war schon in den nächsten sechs Wochen verfügbar. Es handelte sich dabei um einen Anwalt aus Linz, einen gewissen Wilhelm Tor, vierzig, mit einem Diplom der Universität von Berlin. Er war in Wien geboren und schien sehr erpicht darauf zu sein, an den Ort seiner Geburt zurückzukehren. Und wollte offenbar ebenso dringend in eine Kanzlei eintreten. Sein Lebenslauf war wirklich beeindruckend. Da er außerdem sofort verfügbar war, griff Berthe zu ihrem Füllfederhalter. Sie wollte ihre Antwort an ihn noch mit der Nachmittagspost absenden. AdvokatWerthen wäre geehrt, Herrn Tor zum Gespräch zu empfangen, schrieb sie. Keine Rede davon, dass Karl gar nicht anwesend war. Sie wusste ebenso gut, wer für die Kanzlei in Frage kam.
Ich will nur hoffen, dass Herr Tor leibhaftig genauso gut ist wie auf dem Papier, dachte sie und unterzeichnete den Brief schwungvoll mit dem Namen ihres Mannes.
Dann betrachtete sie einen Moment den geprägten Briefkopf. Sie mochte die solide, strenge Eleganz, die die moderne Schrift vermittelte. Zu Karl passte keine altdeutsche oder gotische Gestaltung. Zugegebenerweise hatte ihr Ehemann durchaus barocke Züge, eine empfindliche Seele, oftmals versteckt unter einem übermäßig ausgeschmückten Wortschwall; aber wie sollte man dem entkommen, wenn man in Österreich geboren war? Doch ihre liebevollen Sticheleien gegen seine biedere Ausdrucksweise, ihre Widerrede angesichts seiner unentschiedenen Haltung zur Monarchie und vor allem ihre Ermutigungen für seine Entscheidung, zum Strafrecht zurückzukehren, sowie für seine neu entdeckte Vorliebe für Ermittlungen – all dies hatte dazu geführt, ihn aus seiner Schale der Formalität zu befreien und ihre Gemeinschaft stärker und tiefer werden zu lassen.
Jetzt könnte es aber wohl bald an der Zeit sein, die Angelegenheit zu überdenken. Solange Karl in der Lage war, seine Energie zugleich den bereits bestehenden Klienten zu widmen, konnte er gern auch seine anderen Interessen verfolgen. Aber nun, da er länger im Salzkammergut weilte, spitzten die Dinge sich zu. Die Rechtskanzlei lief nicht einfach von selbst, auch nicht mit einem Assistenten, mochte er noch so talentiert und ehrgeizig sein. Schließlich konnte eben dieser Ehrgeiz schnelldazu führen, dass der Mann sich mit einer eigenen Kanzlei selbständig machte.
Ihr graute vor der Wirklichkeit, die über sie hereinbrach, und doch sehnte sie sie gleichzeitig herbei. Es war eine Sache, dass Karl sein Geschäftsschild änderte: ADVOKAT KARL WERTHEN – TESTAMENTE UND TREUHANDANGELEGENHEITEN, STRAFRECHT, PRIVATE
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