Wiener Requiem
für Personen interessiert, die aus diesem oder jenem Grund Herrn Mahler Böses wollen.«
Wie schon in ihrem ersten Gespräch beugte sich Fräulein Schindler auch jetzt wieder vertrauensvoll über den Tisch. Instinktiv trat Gross den Rückzug an. Die Federn seines Schreibtischstuhles knarrten, als er sich zurücklehnte.
»Es gibt da jemanden, von dem Sie wissen sollten«, fuhr sie fort, ohne kaum einmal Atem zu holen.
Allmählich riss sich Gross von ihren recht auffälligen weiblichen Reizen los. Die Falle war aber auch zu offensichtlich gestellt.
»Erzählen Sie bitte«, sagte er nun mit neutraler Autorität.
Als hätte sie den feinen Wechsel im Machtgefüge registriert, entspannte Alma Schindler sich wieder und lehnte sich auf ihrem Stuhl zurück.
»Ich habe – und ich möchte dabei nicht überheblich klingen – eine Reihe von Bewunderern. Dazu zählt auch ein gewisser Heinrich von Tratten. Er stammt aus einer alten deutschen Familie. In seinem Fall ist das ›von‹ vererbt und nicht käuflich erworben. Er besteht darauf, von mir »Heini« genannt zu werden, aber das ist nun wirklich etwas zu viel verlangt. Tatsächlich ist er um etliches älter als ich. In letzter Zeit hat uns der Zufall öfter zusammengebracht, so saßen wir bei verschiedenen Diners nebeneinander und trafen uns bei Vernissagen. Er ist zwar eigentlich ein Kunstbanause, aber dennoch ein großzügiger Förderer der Sezession. Carl, mein Stiefvater, schätzt Herrn von Tratten deswegen.«
Sie lächelte Gross gewinnend an, aber er war jetzt gegen Fräulein Schindlers Verführungskräfte gewappnet und konzentrierte sich allein auf ihre Mitteilungen.
»Ja, ja«, erwiderte er ungeduldig.
»Herr von Tratten ist, wie ich schon sagte, deutschen Ursprungs. Wie Sie ja vermutlich auch, Herr Dr. Gross.«
Da er nichts erwiderte, fuhr sie in ihrer Schilderung fort. »Für Herrn von Tratten ist Herkunft nicht nur eine Sache des Stolzes, sondern auch etwas Schützenswertes, wenn Sie verstehen.«
»Das soll heißen, Herr von Tratten hat gewisse Neigungen,gewisse Vorlieben?«, entgegnete Gross taktvoll. Er wollte den Vogel nicht freilassen, bevor er sein goldenes Ei gelegt hatte.
»Genau.«
Berthe unterbrach: »Entschuldigung, ich möchte den Ausdruck nur korrekt in den Akten festhalten. Wir sprechen hier von Antisemitismus, nicht wahr?«
»Ja«, erwiderte Gross und warf dabei einen abschätzigen Blick in Berthes Richtung. »Ich glaube, das wollte Fräulein Schindler andeuten.«
»Wohlgemerkt«, fügte Alma schnell hinzu, »das ist an und für sich noch kein Anlass zu Verdächtigungen. Viele teilen die Ansicht, dass Wien zu sehr unter dem Einfluss jüdischen Besitzes steht, von der Industrie bis zu den Zeitungen.«
»Und ebenso in den juristischen Berufen«, fügte Berthe hinzu, wurde jedoch wiederum ignoriert.
»Und im Falle des Herrn von Tratten?«, drängte Gross sie.
»Nun, sehen Sie, er hat eine dumme Fotografie gefunden, die ich immer bei mir trage. Einige Freunde, die meine tiefe Bewunderung für Herrn Mahler kennen, haben keine Mühe gescheut, mir ein von ihm signiertes Porträt zu besorgen. Vor einigen Wochen saß ich bei einer Abendveranstaltung bei Zuckerkandls neben von Tratten. Ich öffnete beiläufig meine Handtasche, und er bemerkte Mahlers Foto. Natürlich ergab sich daraufhin ein Gespräch über die Umwälzungen an der Hofoper durch den Maestro wie auch über seinen Genius. Nun, ich begann also das Genie zu rühmen, und ich bin sicher, Herr von Tratten verstand meine Gefühle sehr genau, meine Verehrung für Mahlers Kunst, vielleicht auch für den Mann selbst, obwohl ich ihm nie begegnet bin. Plötzlich aber begann Herr von Tratten eine äußerst beängstigende Tirade über den Fluchder jüdischen Rasse und dass jeder Jude, der jemals auch nur in Gedanken eine holde arische Maid um ihren Schatz beraubte, vernichtet werden müsse. Das war genau der Ausdruck, den er benutzte: vernichten. Es war wirklich unheimlich.«
»Und warum haben Sie dies nicht bereits in Ihrem ersten Gespräch mit Advokat Werthen erwähnt?«, fragte Gross.
»In der Erregung des Moments werden gelegentlich Dinge gesagt, die eigentlich nicht so gemeint sind. Ich war mir der wirklichen Bedeutung nicht sicher. Aber Sie müssen wissen, seit jenem Abend ist Herr von Tratten wiederholt an mich herangetreten. Es scheint fast so, als mache er mir den Hof, obwohl ich ihn nicht im Geringsten dazu ermuntert habe. Er ist eine wirkliche Kröte von einem Mann, ungeachtet
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