Wiener Requiem
bisher kürzeste Sinfonie des Komponisten werden; wahrscheinlich würde sie weniger als eine Stunde dauern. Zwar sollte sie die herkömmlichen vier Sätze aufweisen, deren letzter ein Lied für Sopran aus der deutschen Sammlung volkstümlicher Gedichte »Des Knaben Wunderhorn« war, die Mahler schon früher zu Liedern inspiriert hatte. In diesem Fall wollte er ein Gedicht verarbeiten,das davon handelte, wie ein kleiner Junge sich den Himmel vorstellte.
»Kein Musik ist ja nicht auf Erden, die unsrer verglichen kann werden«, sprach das Kind an einer Stelle, und Werthen fand einige der Passagen, die er gerade mitgehört hatte, wirklich himmlisch.
Aber rechtfertigte sein Beitrag zu diesen künstlerischen Beschäftigungen wirklich seine Abwesenheit von Wien? Er vermisste Berthe, und seine Schuldgefühle wuchsen mit jedem Tag, den er nicht mit ihr verbrachte. Dies waren nicht die beruflichen Arbeitsferien, wie er sie sich erhofft hatte. In seiner Phantasie war er halb Spürhund und halb stoischer Beschützer gewesen und nicht ein Lakai, der unerwünschte Besucher abwimmelte. Außerdem wollte er auch nicht das stimmlose Echo für Mahlers musikalische Träumereien sein, wenn sie nachmittags durchs Land wanderten, wobei der brillante Komponist ständig Lokum aus seinen vollgestopften Taschen naschte.
Nein. So grandios die Musik auch sein mochte, es war nicht seine Aufgabe oder gar Pflicht, eine Atmosphäre zu schaffen, in der künstlerische Schöpfung gedieh. Seine Aufgabe bestand ganz einfach darin, zu verhindern, dass Mahler getötet würde. In Altaussee sah Werthen keine Gefahr für den Komponisten. Seine Schwester Justine und die Freundin Natalie reichten als Wachhunde völlig aus. Und er, Werthen, wurde in Wien mehr gebraucht.
Er stand auf und streckte den Rücken. Sein rechtes Knie schmerzte, und sein Hinterteil war vor lauter Sitzen auf dem harten Stuhl eingeschlafen. Werthen war entschlossen, am nächsten Tag oder spätestens am übernächsten abzureisen. Es war nicht fair von ihm, die Aufgabe, einen Nachfolger für Ungarzu finden, allein Berthe aufzubürden. Und was Gross betraf, so war es sehr wahrscheinlich, dass der Kriminologe den Fall bereits an sich gerissen hatte. Gross folgte der heißeren Spur in Wien, während er selbst im ländlichen Hinterland von Altaussee seine Zeit vergeudete.
Er musste in jedem Fall zurück nach Wien, weil er es versäumt hatte, die Akten zur Änderung von Mahlers Testament mitzunehmen. Gestern erst hatte Mahler ihn danach gefragt, jederzeit wollte er unterschreiben. Es ging darum, seine wiederverheiratete Schwester Emma vom Erbe auszuschließen.
Im vergangenen Jahr hatte diese Schwester Eduard Rosé geheiratet, den Begründer des gefeierten Rosé Quartetts. Gerüchten zufolge hatte er sich einige Vorteile von der Heirat mit der Schwester des neuen Dirigenten der Hofoper versprochen. In einem Anfall von Gereiztheit, weil ihm dieser Mann die Schwester und Gehilfin weggenommen hatte, verkündete Mahler, Eduard niemals an der Hofoper beschäftigen zu wollen. Das Paar war daraufhin in die Vereinigten Staaten emigriert, wo Eduard eine Anstellung beim Boston Symphony Orchestra fand.
Eduard Rosé war der Bruder von Arnold Rosé, dem Konzertmeister bei den Wiener Philharmonikern und Verehrer von Mahlers anderer Schwester Justine. Werthen fragte sich, ob es Arnold nach der Hochzeit besser ergehen würde als seinem Bruder. Soweit er es einschätzen konnte, ging Arnold Rosé allerdings weniger sprunghaft zur Sache als sein älterer Bruder.
Jedenfalls erforderte der Ausschluss Emmas aus seinem Testament eine Neufassung des Letzten Willens. Werthen beabsichtigte, Berthe ein Telegramm zu schicken, um seine Rückkehrwegen der Akte Mahlers anzukündigen. Er konnte einfach nicht die Wahrheit sagen, dass er sie nämlich sehr vermisste und er verdammt überdrüssig war, von Mahler wie ein Diener behandelt zu werden. Es hätte sich zu sehr so angehört, als käme er mit eingezogenem Schwanz nach Hause. Ja, noch heute Abend würde er ein Telegramm schicken.
»Herr Werthen.«
Er schreckte aus seinen Gedanken auf und sah Justine vor sich.
»Gustav ist bereit für den Nachmittagsspaziergang.«
»Gewiss«, erwiderte er. »Gut, frische Luft können wir alle gut gebrauchen.« Er war nicht allzu glücklich über die anstehende Wanderung, bei der er mit Mahlers ausgreifendem Tempo mithalten und sich seine endlosen Ausführungen über die Musik anhören müsste.
»Er freut sich immer sehr auf diese
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