Wiener Schweigen
Nachmittag war, brannte die Sonne weiterhin unbarmherzig nieder. Sie hatte das Gefühl, als würde der Staub der Stadt zusammen mit ihrem Schweiß eine dicke Schmutzschicht auf ihrem Körper bilden. Der Verkehr war dicht, und sie stellte sich während der stockenden Fahrt nach Brunn vor, wie sie in den Sellnersee springen und das klare, kalte Wasser den Dreck der Stadt von ihr abwaschen würde. Rosa wollte Klarheit in ihrem Kopf und ihre Neugierde, was auf dem Zettel stand, in den Griff bekommen.
Beim Sellnersee angekommen, zog sie sich umständlich im Auto um, stieg dann schnell aus, nahm Anlauf und sprang hinein. Wie immer nahm sie keine Rücksicht auf ihre Frisur und tauchte schnell unter. Die Ikone kam ihr dabei in den Sinn. Sie ließ ihre Gedanken schweifen und versuchte, sich ein Bild von Andrzej zu machen. Ein junger Mann, der Tagebuch schrieb und in dessen Kopf die Ikone dauernd präsent war. Er war vor Friedrich Kobald gestorben, war aber in dessen Wohnung gewesen und hatte den Weihwassersprengel in der Hand gehabt. Rosa musste sich eingestehen, dass sie große Sympathie für ihn empfand, ohne ihn je kennengelernt zu haben. Sie konnte seine Fixierung auf das Bild der Muttergottes mit dem Kind nachvollziehen. Andrzej hatte viel auf sich genommen, und die Leute im Kahlenbergerdorf waren, wie viele Wiener, nicht unbedingt freundlich und aufgeschlossen Fremden gegenüber.
Sie erreichte das gegenüberliegende Ufer, ihre Füße berührten kurz den Boden, dann stieß sie sich mit aller Kraft ab und schwamm zurück.
Den Rückweg nahm sie langsamer in Angriff, ihr Puls stellte sich auf die körperliche Anstrengung ein und wurde ruhiger. Sie schwamm mit kräftigen Zügen, bis ihr Kopf leer war, dann drehte sie sich auf den Rücken und ließ sich, schwer atmend, treiben. Wie vom dunklen Grund des Sees tauchte das Bild des Brustkreuzes erneut vor ihrem geistigen Auge auf. Sie überlegte, ob sie nicht ein paar vorsichtige Anfragen an Fachkollegen stellen sollte. Vielleicht wusste jemand, ob in letzter Zeit vermehrt liturgische Kunstgegenstände aus dem Osten auf den Markt gekommen waren. Noch einmal ließ sie die feine Handarbeit Revue passieren und war froh, das Stück Papier unter der Goldplatte gefunden zu haben. Sie bemerkte, dass ihr Herz schneller schlug, als sie daran dachte. Was konnte nur auf diesem Zettel stehen?
8
Als Rosa ihre Eingangstür aufsperrte, klingelte das Telefon.
»Fleisch oder Fisch?«, wollte Johanna unvermittelt wissen. »Und was mich noch mehr interessiert: weißen oder roten Wein?«
»Provenzalisches Huhn und einen Zierfandler vom Weingut Spaetrot in Gumpoldskirchen. Das Huhn ist allerdings fast so groß wie ein Kalb«, antwortete Rosa. »Ich bring alles mit.«
»Ohhh, Gumpoldskirchen«, schwärmte Johanna, »da sollten wir wieder einmal Wein einkaufen!«
Rosa beschloss, das Huhn bei sich zu Hause im Ofen zuzubereiten, da sie sich währenddessen noch duschen wollte. Sie lief in den Garten und grub ein paar kleine Zwiebeln und Knoblauch aus und schnippte mit dem Fingernagel drei Thymianzweige ab. Sie wählte einen knackigen Salatkopf und war beruhigt, als sie nicht eine einzige Nagespur von Schnecken darauf fand.
In der Küche wickelte sie vorsichtig vier frische Feigen aus dem Seidenpapier. Während sie das Huhn zerteilte, fiel ihr die Nacht letzten Jahres ein, als der flüchtige Mörder ihres damaligen Falles sie in seine Gewalt gebracht hatte. Das Gefühl der Ohnmacht, während sie damals misshandelt worden war, wurde wieder präsent. Sie biss die Zähne zusammen und zerteilte mit einem scharfen Messer die Hühnerbrust.
Rosa war noch nie einem anderen Menschen gegenüber handgreiflich geworden. Sie konnte sehr wütend werden, aber der entscheidende Schritt, ein Lebewesen zu verletzen, war für sie eine Schwelle, die sie nicht übertreten wollte.
Sie löste die Keulen vom Huhn, indem sie das Gelenk ausdrehte.
In jener Nacht im letzten Dezember hatte sie die Erfahrung gemacht, dass es Menschen gab, für die diese Schwelle nur eine dünne Membran war, die sie leicht überschreiten konnten. Was danach folgte, konnte bis zu Mord führen. Rosa hatte die Gewalt, mit der sie krankenhausreif geschlagen worden war, als so zerstörerisch empfunden, sich so ausgeliefert gefühlt, dass sie bis heute nicht annähernd darüber hinweggekommen war. Ihre Finger umklammerten den Messergriff, sodass die Knöchel weiß hervortraten. Schnell atmete sie tief durch und löste den Griff.
»Nie wieder
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