Wiener Schweigen
in flache Sandalen. Zum ersten Mal fiel ihr auf, wie braun ihre Zehen schon geworden waren.
Im Erdgeschoss lag der würzige Duft des Huhnes in der Luft. Rosa hob die Tonschüssel aus dem Ofen und legte drei aufgeschnittene Feigen auf den dampfenden Braten. Dann verschloss sie das Gefäß und stellte es vor die Haustür, damit es vor dem Transport ein bisschen abkühlte.
Nachdem sie die Kellertür geöffnet hatte, verrenkte sie sich, um den Lichtschalter zu erreichen, der durch eine Laune eines trinkfesten Elektrikers oberhalb des niedrigen Türrahmes befestigt war. Nur langjährige Freunde, die die ungewöhnliche Position des Schalters kannten, konnte Rosa allein in den Keller schicken. Obwohl ihre Weinvorräte noch immer beachtlich waren, wurde sie etwas nervös, als sie die gelichteten Reihen sah. Sie fischte eine Flasche Zierfandler aus dem Regal und lief die Treppe wieder hinauf. Im Stehen ging sie schnell ihre Post durch und stutzte bei einem Brief. Schnell riss sie ihn auf und begann zu lesen.
Als Rosa vor Johannas Haus vom Rad stieg, begann die Sonne bereits unterzugehen. Sie klemmte sich die Flasche Wein unter den Arm und hob die Tonschüssel von ihrem Gepäckträger, wo sie während der vorsichtigen Fahrt hierher leise vor sich hin geklappert hatte. Sie öffnete die Eingangstür und fand Johanna telefonierend in einem breiten Wohnzimmersessel vor. Rosa ließ ihren Blick über die ausgeschnittenen Zeitungsartikel, die jeden Stuhl und Tisch und die überquellenden Bücherregale bedeckten, gleiten, nickte ihrer Freundin zu und ging durch die Terrassentür in den Garten.
Sie bewunderte Johanna dafür, dass sie so ohne Weiteres in diesem Chaos leben konnte. Johanna war sehr belesen und bekannt für ihre »Hast du gewusst?«-Sätze, die Rosa einerseits sehr mochte, die sie andererseits aber auch zur Weißglut treiben konnten und nicht selten zu einem Wissenswatschentanz der beiden führten.
Unter einem ausladenden Nussbaum war ein Tisch mit einem blau-weiß karierten Tischtuch gedeckt. Rosa stellte das Tongefäß mit dem provenzalischen Huhn in die Mitte. Als sie gerade Platz nehmen wollte, hörte sie, wie Johanna wütend das Gespräch beendete und zu Rosa in den Garten kam.
»Dieser Ludwig bringt mich noch um den Verstand!«, rief sie und ließ sich in einen Sessel fallen.
»Wie macht er das diesmal?« Rosa öffnete die Flasche Zierfandler.
»Ich wollte ihn zum Essen einladen, nachdem du gesagt hast, das Huhn sei so groß wie ein Gaul.«
»Kalb.«
»Was, es gibt Kalb?«
»Nein, ich habe gesagt, das Huhn sei so groß wie ein Kalb.«
»Kalb oder Gaul, irgendwas mit Hufen. Aber weißt du, warum er nicht kommen kann?«
»Ich bin mir sicher, dass ich das nie erraten werde!«
»Weil er sein Sofa bügelt, Yvonne hilft ihm dabei. Wer bügelt denn bitte sein Sofa?«
Rosa lachte laut auf. »Wundert mich überhaupt nicht, bei einem Menschen, den einmal im Jahr eine panische Angst vor Tackern überfällt.«
Der Zierfandler passte mit seiner fruchtig-trockenen Note ausgezeichnet zum Huhn. Die Flasche war gut gekühlt und beschlug in der untergehenden Sonne. Nach dem Essen sahen Johanna und Rosa auf die zartblau blühenden Flachs- und die gelben Weizenfelder, die in der Dämmerung immer dunkler wurden.
»Ich habe heute einen Brief bekommen«, sagte Rosa und nippte an dem Grappa, den Johanna aufgewartet hatte.
»Wer schreibt denn heute noch Briefe?«
»Als Liebhart und ich im Dezember letzten Jahres den Fall abgeschlossen hatten, hat er mir eine Liste gegeben.« Rosa spürte, wie Johanna sich versteifte. Der Übergriff auf sie war auch für ihre Freundin nicht leicht zu verarbeiten gewesen.
»Die Polizei hat ein paar Personen und Firmen finden können, mit denen der Mörder, der auch die Collage angefertigt hatte, zu tun gehabt hat«, fuhr Rosa fort und versuchte, Johannas Anspannung zu ignorieren. »Ich habe nach einem gemeinsamen Nenner zwischen Paul und dem Täter gesucht und ihn auf der Liste gefunden.«
Eine Fledermaus flog im Zickzack über die Felder.
»Als Chemiker hat Paul bei diversen Projekten mitgearbeitet, manchmal sogar bei mehreren gleichzeitig, von denen ich nichts wusste. Auf der Liste, die mir Liebhart gegeben hatte, war der Name einer Pharmafirma: Bakk Pharm AG . Der kunstsinnige Mistkerl, der mich zusammengeschlagen hat, hat dort ein paar Monate als Aushilfshausbesorger gearbeitet. Ich hatte da vor zwei Monaten angerufen und mich als Freundin des verstorbenen Paul Dearing
Weitere Kostenlose Bücher