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Wiener Schweigen

Wiener Schweigen

Titel: Wiener Schweigen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Iris Strohschein
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und das kleine Glas mit gefüllten Paprika einzupacken.
    Die Luft war noch klar und frisch, als sie mit ihrem Auto langsam die kurvenreiche Straße zum See hinunterfuhr. Da der Nasenweg, der vom Kahlenbergerdorf zur Kirche am Gipfel des Leopoldsberges führte, im unteren Drittel gesperrt war, wollte Rosa ihn von der St.-Leopolds-Kirche bergab Richtung Donau bis zur Sperre gehen. Sie parkte ihr Auto in der Nähe der Kirche und betrat den schmalen Weg, der unterhalb des wuchtigen Baus begann.
    Zwischen den Bäumen am Hang des Berges hing Morgennebel. Sie zog eine dünne Sommerweste an, die sie in einer Stunde schon nicht mehr brauchen würde; die Luft war jedoch so kristallklar und kalt, dass sie keine Erkältung riskieren wollte.
    Die spitzen, dicken Blätter der Flaumeichen wirkten im hellen Morgenlicht wie poliert. Sie blieb bei der Nasenweggabel stehen und beobachtete eine Smaragdeidechse, die sich, steif von der kühlen Nacht, auf einem Stein sonnte. Bei Kehre neun hatte sie einen ersten Ausblick auf den abgegangenen Hang. Sie spähte ins Tal und beschloss, bis zum großen Ravelin hinunterzugehen – einer weit herausragenden Plattform, von der aus sie den Hang mit ihrem Feldstecher absuchen wollte. Der Nasenweg führte streckenweise durch dichten Mischwald, der den Blick vollends verdeckte.
    Als sie wenig später die Plattform erreicht hatte, stockte ihr der Atem. So nah war sie den verheerenden Folgen der Naturkatastrophe noch nicht gewesen. Sie stellte sich vor, dass in einer Nacht vor fast neunzig Jahren eine Gruppe von Männern in Tücher eingewickelte Körper den steilen Weg hinaufgetragen und sie neben der Grube abgelegt hatte. Fünfunddreißig Leichen lagen schließlich auf dem weichen Sandboden, dann begannen die Männer, die Körper hinabzuwerfen und sie zuzuschaufeln. Ob sie nach getaner Arbeit die Hüte abgenommen und gebetet hatten? Oder hatten sie sich einfach umgedreht und waren den Weg schleunigst wieder ins Tal hinabgestiegen?
    Rosas Kehle war trocken. Sie steuerte die kleine Bank an, die an einer Mauer der befestigten Plattform stand. Nachdem sie fast eine halbe Flasche Wasser getrunken und währenddessen auf den Hang gestarrt hatte, beschloss sie, etwas zu essen. Auf der anderen Seite des Flusses verschwand die Spitze des Donauturms im milchigen Sommerhimmel.
    Rosa biss in ein belegtes Wurstbrot und hielt dabei kurz das Glas mit den eingelegten Pfefferoni gegen das Sonnenlicht. Senfkörner und kleine Paprikakerne sanken langsam zu Boden, das Öl schimmerte golden durch das Glas. Sie schraubte den Deckel auf und griff zu. Während sie kaute, wandte sie ihr Gesicht in die Sonne. Als sie nach ein paar Minuten die Augen wieder öffnete, bemerkte sie am Horizont einen kleinen schwarzen Punkt. Sie hielt ihn zuerst für ein Flugzeug, bis sie erstaunt feststellte, dass der Punkt sich nicht wie ein Flugzeug näherte, sondern eher auszudehnen schien. Die Ränder des schwarzen Fleckes schillerten in Orange, Rot und Dunkelgelb. Sie stand langsam auf und trat an das Geländer der Brüstung. Der Punkt zog sich in die Länge und nahm elliptische Formen an, er bedeckte nun schon ein Drittel des Horizontes.
    »Du darfst nicht zu lange ins Schwarze sehen«, meinte Paul.
    Als Rosa sich umdrehte, stand er hinter ihr, die Hände in den Hosentaschen vergraben.
    »Aber es ist so wunderschön und friedlich«, meinte sie und wandte sich wieder der Ellipse zu, deren Ränder sich jetzt in den unterschiedlichsten Blautönen auflösten und dabei spiralförmig zu drehen begannen. Das Blau des Himmels wurde in ihre Mitte gezogen, nun hatte der untere Rand auch schon die Donau erreicht. Wie ein dunkelblaues Band drehte sich der Fluss und wurde in die Mitte der Ellipse gezogen. Rosa stieg auf die kleine Mauer und beugte sich weit vor. Das Grün der Bäume am Hang unter ihr löste sich im Wirbel auf, die Wipfel verschwanden mit peitschenden Enden. Rosa streckte die Hand aus, ihre Fingerspitzen wurden lang gezogen. Es kitzelte, und sie musste lachen.
    »Tu es nicht«, rief Paul.
    Rosa breitete die Arme aus, legte den Kopf in den Nacken, schloss die Augen und ließ sich nach vorn fallen.
    »Wo steckt denn die blöde Kuh?«, brummte Johanna und wälzte sich auf den Bauch.
    »Hat sie auch sicher gesagt, dass sie kommt?«, fragte Yvonne und dämpfte ihre Zigarette in einem kleinen silbernen Taschenaschenbecher aus.
    »Ich finde, wir sollten sie suchen gehen«, meinte Ludwig und legte gewissenhaft die mitgebrachte Picknickdecke Kante

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