Wiener Schweigen
Original sehen. Auf dem Foto hatte man nicht die feine Ausführung der Falten, die das Gewand der Muttergottes warf, erkennen können. Der vergoldete Hintergrund war in den Jahren im Keller verblasst, schwach schimmerte er unter einer dicken Patina hindurch. Rosa trat näher an die Wand heran und entdeckte, dass das Oklad einer Dreifaltigkeitsikone, die in der Mitte der Wand hing, beschädigt war. Sie bat die Polizisten, nach dem fehlenden Metallstück zu suchen. Es wurde zwischen den Krautfässern gefunden, getrocknetes Blut klebte daran.
»Hier ist Andrzej gestorben.« Sie sah Liebhart an, der bis jetzt kein Wort herausgebracht hatte.
Er nickte kurz. »Damit ist der Keller ein Tatort«, sagte er und wandte sich zu den beiden Beamten. »Ich verständige die Spurensicherung aus Wien. Sie verlassen den Keller und schließen ihn ab. Rosa, bitte warte du auch oben, bis die Kollegen fertig sind; ich möchte, dass du die Kunstgegenstände später katalogisierst. Sie werden alle ins Labor der Kulturgutfahndung gebracht.«
Dann verabschiedete sich Liebhart, er wolle nach Wien fahren und mit dem Verhör von Frau Tobler beginnen.
Rosa stieg nach ihm die Treppe hinauf. Die Polizisten sperrten den Keller ab und traten mit ihr auf den Platz hinaus.
Jahrelang bin ich hier einkaufen gegangen. Unter meinen Füßen hat ein Schatz gelegen, und ich hatte keine Ahnung, dachte sie und blickte zum Kahlenberg hinüber.
Die Spurensicherung war eine Dreiviertelstunde später da. Männer in weißen Einwegoveralls sicherten den Tatort und brauchten dafür fünf Stunden. Rosa verbrachte die Zeit, indem sie langsam auf dem Platz hin und her ging. Ein warmer Wind trieb durch die Gassen und wirbelte Staub auf. Um fünf Uhr trat ein Beamter an Rosa heran und informierte sie, dass sie nun mit ihrer Arbeit beginnen könne.
Sie stieg erneut in den Keller, wo sich ihr zwei Mitarbeiter des Labors der Kulturgutfahndung vorstellten. Rosa vergaß die Namen sofort wieder. Die Kunstschätze wurden an ihren Plätzen fotografiert und in Beuteln in mit Holzwolle ausgelegte Truhen verpackt. Rosa plante, jedes Stück zu nummerieren, und wollte ihren Aufzeichnungen noch eine kurze Beschreibung hinzufügen. Sie entschied sich, mit den Medaillen zu beginnen, die stapelweise zwischen und hinter den Gläsern auf den Regalen lagen. Als sie ein großes Gurkenglas beiseiteschob, flatterten ein paar dicht beschriebene Blätter auf den Boden. Rosas Herz begann zu klopfen, als sie erkannte, dass es sich um dieselbe Handschrift handelte, mit der auch die Nachricht im Brustkreuz geschrieben worden war. Sie hob die Blätter langsam auf und begann zu lesen.
Das ist die Geschichte der großen Sünde.
Mein Name ist Margarethe Zehetmair, geborene Peuntner. Wir schreiben das Jahr 1919. Vor dem Krieg war ich mit Leopold Fuhrenbacher verlobt.
Dann war der Text durch das Vaterunser unterbrochen: Pater noster, qui es in caelis: sanctificetur nomen tuum …
Rosa überflog es und widmete sich dann wieder der Geschichte von Frau Zehetmair.
Ich war eine gute Partie, meinem Vater gehörte viel Land. Leopold ist mit seinem besten Freund Konrad Peuntner in den Krieg gezogen. Sie waren gute Soldaten. Doch sie hatten Gottloses getan. Auf Leiterwägen haben sie, durch Planen verdeckt, viel Gold, Kreuze und Bilder heimgebracht. Das hat mir Konrad später erzählt und dass das Gold ihm zustehen würde und nicht Leopold. Konrad hat es auch bei sich im Keller versteckt. Da Leopold nichts hatte und Konrad vermögend war, wollte mein Vater, dass ich die Verlobung mit Leopold löse und Konrad heirate. Ich hab mich überreden lassen, den Antrag angenommen und damit große Sünde auf mich geladen.
Dann kam ein Bußgebet, Rosa blätterte entnervt weiter.
Leopold und Konrad haben miteinander gebrochen. Kurz nach meiner Hochzeit war ich guter Hoffnung. Deshalb war ich nur kurz bei der Erntedankfeier am 28. September. Mein Mann ist geblieben. Am Morgen des nächsten Tages habe ich nach dem Aufwachen festgestellt, dass er nicht da war. Ich hab gedacht, dass er wahrscheinlich zu viel getrunken hatte und in der Nähe des Festplatzes in einen Heuschober gekrochen ist, um seinen Rausch auszuschlafen. Doch auch die zwei Knechte und drei Mägde, die das Fest besucht hatten, waren nicht nach Hause gekommen.
Ich bin also zum Festplatz zurückgegangen. Im Näherkommen ist von dort lautes Schreien und Wehklagen zu mir geklungen. Ich hab, meinen Bauch haltend, zu laufen begonnen und den Festplatz
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