Wiener Schweigen
Krautfrau durch den Vorhang aus bunten Plastikbändern trat. Sie sah Rosa an, und in ihrem sonst so reglosen Gesicht stand für einen kurzen Moment reines Erstaunen.
Liebhart drehte das »Wir haben geschlossen«-Schild, das an der Eingangstür hing, so, dass man die Aufschrift von draußen lesen konnte. Er und Rosa wussten, dass die Polizei bereits ihren Platz im rückwärtigen Teil des Hauses eingenommen hatte. Frau Toblers Fluchtwege waren abgeschnitten. Sie machte allerdings keinerlei Anstalten zu flüchten; ihr Gesicht nahm wieder denselben gleichgültigen Ausdruck an, den Rosa schon seit Jahren an ihr kannte. Die nächsten paar Sekunden dehnten sich, keiner sagte ein Wort. Rosas Blick fiel auf den Stampfer, der im Krautfass steckte. Er war aus Holz und rund.
Schließlich brach Frau Tobler das Schweigen. »Sie hättn das nicht überleben solln – so wie die anderen das auch nicht überlebt habn.«
»Die haben eine höhere Dosis bekommen. Damals hat man sich mit diesen Dingen noch besser ausgekannt. Ihr Stiefvater war ein ausgezeichneter Giftmischer«, sagte Liebhart langsam.
Frau Tobler biss die Zähne zusammen. »Sie können mir den Schatz nicht wegnehmen, er ist alles, was ich hab. Er gehört mir!«
»Er gehört nicht Ihnen, er ist gestohlen worden«, meinte Liebhart und winkte seine Leute herein.
Frau Tobler ließ sich ohne Widerstand von ihnen abführen.
Vor dem Geschäft hatte sich eine Menschentraube gebildet. Rosa sah in die Menge und überlegte, welche Gedanken wohl durch die störrischen Köpfe unter den fest sitzenden Hüten gingen.
Als sie im Begriff war, mit Liebhart ins Auto zu steigen, um zur Vernehmung nach Wien zu fahren – sie wollte unbedingt dabei sein, zu viele Fragen waren noch offen –, trat ein Polizist an den Wagen und sagte leise: »Herr Chefinspektor, das müssen Sie sich ansehen!«
Liebhart ordnete die Überführung von Frau Tobler nach Wien an und bedeutete Rosa, mit ihm zu kommen. Sie folgten dem Polizisten zurück in den Laden und durch den Vorhang hinter der Verkaufstheke in den rückwärtigen Teil des Hauses. Am Ende eines kurzen dunklen Ganges, in dem es stark nach Essig roch, führte eine kleine Tür in den Keller hinab.
Sie stiegen die abgetretenen Stufen einer schmalen Treppe hinunter. Der Raum, den sie nun betraten, war nur durch eine nackte Glühbirne, die von der Decke hing, beleuchtet. Der Fußboden bestand aus festgetretenem Lehm, wie es bei alten Häusern dieser Art üblich war. An drei Wänden standen große Holzfässer unter Regalen, die mit Gläsern eingelegten Gemüses vollgestopft waren.
Das Erste, was Rosa sah, war ein schwacher rotgoldener Schein zwischen den Fässern nahe der Treppe. Das Licht der traurigen Glühbirne brach sich in einer goldenen Monstranz, die zwischen den Behältern hervorlugte wie ein kleines Kind in einem kostbaren Kleid, das sich hier versteckt hatte. Rosa klappte der Mund auf, und sie schloss ihn die nächste Zeit vor Staunen nicht wieder.
Schwach schimmerte eine silberne Reliquienkapsel vom Regal mit den sauren Gurken. Zwischen den Gläsern mit eingelegtem Gemüse blitzte ihr wie ein Feuerstrahl der goldene Fuß eines Messkelches entgegen. Sie zählte acht Altarleuchten, die zwischen, hinter und vor den Gläsern auf den Regalen standen. Dazwischen lagen unzählige Medaillen, ein kunstvoller Türklopfer war an ein leeres Literglas gelehnt. Am Boden entdeckte sie ein circa fünfzig Zentimeter hohes goldenes, mit Edelsteinen besetztes Prozessionskreuz. Zwei Brustkreuze hingen an einem Haken, der in das Holzregal geschlagen worden war. Auf einem Krautfass konnte sie goldene Zierteller und -platten erkennen. Als sie sich zur vierten Wand umdrehte, stockte ihr der Atem. Der ruhige Blick des halb verlöschten Christusantlitzes einer Ikone sah sie an. Das Bild war ein Fragment, die Figuren, die ursprünglich um Christus dargestellt gewesen waren, waren durch die Berührung der Gläubigen kaum mehr zu sehen. Sie brauchte kein Labor, um festzustellen, dass es sich bei dem Bild um ein Werk des berühmten Ikonenmalers Andrej Rublev handelte, der um die Wende des 14. zum 15. Jahrhundert gelebt hatte. Aus der Dunkelheit von vielen Jahren tauchte das friedliche Gesicht Jesu voll unsentimentaler Güte in dem spärlichen Licht des Kellers auf.
Insgesamt schmückten acht Ikonen die Wand – und rechts oben entdeckte Rosa Andrzej Zielińskis Marienikone. Endlich konnte sie das Bild, das in schattierten Brauntönen gemalt worden war, im
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