Wienerherz - Kriminalroman
bitter. »Ein Märtyrer der Arbeiterbewegung, sozusagen. Einer von Hunderten Menschen, die es in diesen Tagen erwischte.«
»Sie wurden 1934 geboren.«
»Meine Mutter war damals im ersten Monat schwanger mit mir. Es war sehr hart für sie. Mein Vater war nicht zufällig in die Schusslinie geraten wie so viele andere. Er gehörte zu den aktiven Kämpfern des Schutzbundes.«
Angestrengt kramte Freund nach seinen Erinnerungen an den Geschichtsunterricht. Der Republikanische Schutzbund war die bewaffnete Organisation der Sozialdemokratischen Arbeiterpartei gewesen. Gegründet wurde er in den zwanziger Jahren als Antwort auf die christlich-sozialen Heimwehren. 1933 verhinderte Kanzler Engelbert Dollfuß nach einer umstrittenen Sitzung mit Polizeigewalt das erneute Zusammentreten des Parlaments, erklärte dessen »Selbstauflösung« und errichtete eine Diktatur. Österreich hatte sich in die Reihen der autoritären europäischen Staaten gestellt, zu denen bereits Hitlerdeutschland und Mussolinis Italien gehörte und denen weitere wie Spanien folgen sollten. Die Schutzbundbasis wollte mit Waffen für die Demokratie oder den Sieg des Sozialismus kämpfen, doch die Führung der Sozialdemokraten plädierte für Ruhe. Zum großen Knall kam es im Februar 1934. Die Polizei wollte in Linz das Hotel Schiff nach einem unerlaubten Waffenlager des Schutzbundes durchsuchen. Als sich dessen Mitglieder dagegen wehrten, kam es zu Feuergefechten. Aufseiten der Polizei mischte bald die Heimwehr mit. In den folgenden Tagen griffen die Kämpfe auf Wien und Industriestädte im Osten Österreichs über. Da waren sie wieder, die Bilder des zerschossenen Karl-Marx-Hofes. Nachdem Polizei, Bundesheer und Heimwehr drei Tage später den Widerstand des Schutzbundes gebrochen hatten, waren Hunderte Menschen gestorben, darunter zahllose, die an den Kämpfen gar nicht beteiligt gewesen waren. Das Dollfußregime richtete führende Schutzbundmitglieder hin, verbot die Gewerkschaften und löste auch gleich noch den Verfassungsgerichtshof auf. Die Leitung der Sozialdemokratischen Arbeiterpartei flüchtete ins Ausland. Mit der Ausschaltung der letzten oppositionellen Kräfte und demokratischen Organe hatte sich das Land endgültig bereit gemacht für den Anschluss an das Dritte Reich, auch wenn das nicht der Plan gewesen war.
»Für meine Mutter war es in der Folge sehr schwer«, fuhr Komeska fort. »Als aktive Kämpferin entging sie den Anhaltelagern wahrscheinlich nur wegen ihrer Schwangerschaft. Arbeit bekam sie auch kaum.«
»Ihre Eltern waren nicht verheiratet?«
»Deshalb trage ich den Namen meiner Mutter. Hat ihr das Leben damals auch nicht erleichtert.«
»Wie hieß Ihr Vater?«
»Johann Pratt.«
Dieser Name war Freund in seinen Nachforschungen nie untergekommen.
»Wissen Sie etwas über seine Familie?«
»Nur, was meine Mutter mir erzählt hat. Er war aus Wien, wie sie, sein Vater war Eisenbahner, starb aber früh, seine Mutter war auch schon tot, als meine Eltern sich kennenlernten.«
»Darf ich noch nach dem Namen der Mutter fragen?«
»Schebesta.«
»Und der Mädchenname Ihrer Großmutter mütterlicherseits?«
»Fögy.«
Lauter gutwienerische Namen böhmischer und ungarischer Herkunft. Freund notierte sie, doch die Wahrscheinlichkeit einer Verwandtschaft aus dieser Richtung wurde immer geringer. Hier kam er wohl nicht weiter.
»Frau Komeska, darf ich Ihnen dieselben Fragen stellen?«
»Bei aller Bereitschaft, der Polizei zu helfen, dürfen wir erfahren, wozu Sie das alles brauchen?«
»Verzeihen Sie bitte vielmals, ich kann momentan nur sagen, dass es für die Ermittlungen nötig ist.«
Sie runzelte ihre Stirn. »Ich verstehe das nicht. Was hat das Verschwinden unseres Sohnes mit unseren Großeltern zu tun?«
»Ich bitte Sie um Ihr Verständnis und Vertrauen, ich werde es Ihnen bald sagen. Aber momentan muss ich erst einmal ein paar Dinge nachprüfen.«
Sie verzog resignierend den Mund.
»Wenn Sie meinen: Meine Eltern hießen Thomas Lofer und Else Patovsky. Meine Großeltern Franz Lofer und Gerhild Josic, Ludwig Patovsky und Hanna Triem.«
Freund schwirrte der Kopf von den vielen Namen. Er ließ sie sich wieder buchstabieren und kritzelte mit.
Das Ergebnis seiner Befragung stellte ihn nicht zufrieden. Er wollte die Art der Verwandtschaft zwischen den Familien Komeska und Dorin herausfinden, nicht nur aus Ermittlungsgründen, sondern aus reiner Neugier. Aber noch wollte er die Komeskas nicht darauf ansprechen.
»Kann ich
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