Wienerherz - Kriminalroman
Aber wir haben auch noch nichts ermittelt.«
»Es gibt doch sogar einen Abschiedsbrief, sagtest du. Der gebrochene Finger kann Dutzende Gründe haben.«
»Sobald ich den richtigen gefunden habe, kann ich ruhig schlafen.«
»Das solltest du schon vorher«, bemerkte Claudia und zwickte in den Wulst, den sein Hemd oberhalb des Gürtels formte. »Morgen musst du früh raus.«
Freund stöhnte. Seit Wochen quälte ihn Claudia mit spitzen Bemerkungen und Gesten wie dieser zu seiner Figur und Gesundheit. Im Frühjahr hatte alles angefangen. Seither joggte sie einmal pro Woche mit einer Freundin. Zu Beginn hatte Freund sie vordergründig ermuntert, nicht ohne sie heimlich zu belächeln und darauf zu warten, dass ihr Elan nach wenigen Wochen versiegen würde. Stattdessen hatte sie zusätzlich mit dem regelmäßigen Besuch einer fragwürdigen Fitnesseinrichtung begonnen, in der sie bei Höllenlärm auf vibrierenden Platten Turnübungen absolvierte, wonach sie sich drei Tage lang vor lauter Muskelkater kaum bewegen konnte.
»Hast du ein Verhältnis?«, fragte er sie eines Tages im Scherz.
»Darf ich mich nicht für meinen Mann attraktiv halten?«, hatte sie mit Unschuldsmiene erwidert.
Und er hätte lügen müssen, wenn er behauptet hätte, dass Claudias Aktivitäten ihrer Erscheinung nicht ausgesprochen guttaten.
Im Sommer war sie nach einem anstrengenden Tag im Büro sogar noch abends losgelaufen, um sich abzureagieren, wie sie sagte. Als Freund bei ihrer Rückkehr eine scherzhafte Bemerkung zu ihrem geröteten Gesicht gemacht hatte, bemerkte sie schnippisch: »Würde dir auch nicht schaden.«
Damit war ausgesprochen, was er mit wachsendem Unbehagen befürchtet hatte. Dabei trieb ihm allein der Gedanke an einen Dauerlauf bereits den Schweiß auf die Stirn.
Zugegeben, es hatte Zeiten gegeben, da hatte man ihn als sportlich bezeichnet. Doch die waren lange vorbei. Er konnte sich nicht erinnern, wann oder warum sein Körper diese andere Form angenommen hatte. Es war einfach passiert, über die Jahre. Er hatte sich daran gewöhnt. Und gedacht, dass es Claudia auch getan hatte.
Doch seit einem Monat verrenkte sie sich nun auch noch mehrmals wöchentlich im Arbeits- und Gästezimmer auf einer Gummimatte bei Yogaübungen. Wenn er zu Hause war, lud sie ihn zum Mitmachen ein. Seine fadenscheinigen Ausreden quittierte sie mit einer immer höher gezogenen Augenbraue.
»Wenigstens einmal pro Woche laufen könntest du gehen«, sagte sie eines Tages. »Vom Büro aus bist du sofort am Donaukanal. Ist doch ideal. Du nimmst dein Laufzeug mit« – er besaß nicht einmal Turnschuhe – »und joggst in der Mittagspause oder nach Dienstschluss noch ein Stündchen.«
In der Mittagspause!
»Und wann soll ich mittagessen?«
»Nachher. Eine Kleinigkeit, ein Joghurt vielleicht. Du wirst sehen, auf mehr hast du dann gar keine Lust.«
»Aber vielleicht habe ich ja gern Lust aufs Essen?«
Wieder ein Stupser gegen sein Bäuchlein – wie er es bezeichnete. Claudia nannte es mittlerweile Wampe. »Das sieht man. Du findest sicher Kollegen, die mit dir laufen. In Gesellschaft macht es noch mehr Spaß.«
Davon kannte er leider einige. Sogar sein eigenes Teammitglied Lukas Spazier gehörte dazu. Aber das erzählte er Claudia lieber nicht. Sonst kam sie noch auf grandiose Ideen. Schauerbilder stiegen in ihm hoch. Er stellte sich vor, wie er mit hochrotem Kopf, den nur ein lächerliches Frotteeschweißband vom Platzen abhielt, neben dem jungen Spritzer dahinjapsen würde, bevor er nach wenigen hundert Metern, mit krummem Rücken, die Hände auf die Knie gestützt, das Haupt zwischen den Schultern um Luft ringend, seine Kapitulation eingestehen müsste.
»Außerdem bin ich dann ganz verschwitzt im Büro.«
»Ihr habt eine Dusche.«
»Trotzdem.«
»Dann lauf eben in der Früh.«
Seit zwei Wochen sekkierte sie ihn nun fast jeden Abend damit.
»Ich habe kein Laufzeug«, sagte er.
»Dann besorg dir endlich eines.«
Wo waren die Zeiten geblieben, als ein »gestandener Mann« wie sein Großvater selig hauptsächlich aus Bauch bestehen musste?
Die sprichwörtliche Nadel
Den Wecker hätte Freund am liebsten durch das geschlossene Fenster geworfen. Aber das Gerät stand auf Claudias Nachtkästchen.
»Mach das Ding aus«, flehte er und griff benommen auf ihre Bettseite – ins Leere. Ach Gott, heute war ihr Joggingmorgen! Er hatte so tief geschlafen, dass er gar nicht gehört hatte, wie sie aufgestanden war. Das Piepen machte ihn
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