Wienerherz - Kriminalroman
verrückt.
Mühselig wälzte er sich hinüber, bekam den Krachmacher zu fassen und fand endlich den Knopf zum Abschalten. Halb sieben. Und weil Claudia mit ihrer Freundin lief, musste er die Kinder aus den Betten bekommen, anziehen und abfüttern, bevor er sie zur Schule brachte. Immerhin hatte Claudia ihn schlafen lassen und nicht darauf bestanden, ihm mitzuteilen, dass sie jetzt starten würde und bedauerte, dass er nicht mitkam. Was sie in Wahrheit ohnehin nicht wollte, weil sie so mit ihrer Freundin tratschen konnte.
Gingen die beiden überhaupt laufen? Oder setzten sie sich in ihren schicken Ausrüstungen nur in ein Kaffeehaus zum Frühstücken und rannten danach die paar hundert Meter nach Hause, um dort verschwitzt und mit rotem Kopf anzukommen? Genau genommen wusste Freund nicht einmal, ob sie diese Freundin wirklich traf. Auch wenn diese es bei verschiedenen Gelegenheiten, bei denen sie sich gesehen hatten, steif und fest beteuerte.
Er quälte sich aus dem Bett. Zeitlebens war er kein Morgenmensch gewesen und würde es auch nicht mehr werden. Es sei denn, die legendäre senile Bettflucht ereilte ihn später einmal. Was er als ausgesprochene Gemeinheit, geradezu als persönlichen Affront des Schicksals empfinden würde, ausgerechnet in jenem Lebensabschnitt nicht lange schlafen zu können, der keine Schul- oder Bürozeiten oder andere Aufstehzwänge mehr für ihn vorsah.
Neulich hatte er in einer Zeitung gelesen, dass zwei Drittel der Menschen eigentlich Spätaufsteher waren. Solche Kinder etwa waren in der Schule erst ab elf Uhr wirklich aufnahmefähig. Deshalb hatten die Dänen damit begonnen, für diese Glücklichen Schulen einzuführen. Er wusste allerdings nicht, ob die Geschichte wahr oder nur die Ente eines gelangweilten Journalisten war.
Bis vor einem halben Jahr hatte auch Claudia zu dieser Gattung Mensch gehört. Clara und Bernd hatten diese Eigenschaft von ihren Eltern geerbt. Wobei er meinte, sich zu erinnern, dass sie vor Kindergartenzeiten ziemlich früh aufgetaucht waren, um bei ihnen noch ein bisschen unter die Decken zu kriechen. Erst mit der Pflicht zum Aufstehen hatten sie ihre Lust am Langschläfertum entdeckt.
Er tappte durch den Flur und klopfte an die Türen der Kinderzimmer.
»Aufstehen!«
Das Ritual war sattsam eingespielt. Als Nächstes würde er sich rasieren. Was er tat. Die wirren Haare strich er mit den Händen zurecht. Dann ging er wieder, klopfte und rief ein weiteres Mal. Weil er, wie üblich, keine Antwort erhielt, öffnete er nun, wie üblich, die Türen und rief noch einmal. Natürlich taten beide so, als befänden sie sich in tiefer Bewusstlosigkeit. Dabei wussten sie genau, wie die Geschichte enden würde. Freund fragte sich, warum Menschen diese umständlichen Prozesse benötigten, aber anscheinend steckte es in ihnen drin. Deshalb waren wohl Religionen, ob alte oder neue, mit ihren Ritualen so beliebt. Zuerst nahm er sich Bernd vor, den trägeren der beiden. Er kitzelte ihn. Der Bub konnte sich nur kurz beherrschen, dann drehte er sich mit einem verärgerten »Lass mich« weg. Zimmerwechsel, dasselbe Spiel bei Clara. Zurück zu Bernd, der immer noch lag, ihm den Rücken zuwandte, die Decke bis zu den Ohren hochgezogen. Freund sah sich um, bis er fand, was er suchte.
»Computer gibt es erst wieder, wenn du aufstehst«, erklärte er und klemmte sich den Laptop seines Sohnes unter den Arm.
Himmel, in dem Alter hatte er selbst gerade einen Kassettenrekorder besessen!
Bei Clara wirkte der Handyentzug besser.
Zwanzig Minuten später saßen sie alle frisch geduscht, frisiert und angezogen am Frühstückstisch. Gemeinsam hatten sie Brote gerichtet, Freund trank den ersten Kaffee des Tages. Er musste an Florian Dorins Eltern denken. Sicher waren sie auch einmal so zusammengesessen, wenn auch in anderem Ambiente.
Die Schule lag nur zehn Minuten entfernt. Mit hängender Zunge jagten die Kinder ins Gebäude, während die Schulglocke den Beginn der ersten Stunde ankündigte. Das war schon zu Freunds Zeiten so gewesen. Wer am nächsten zur Schule gewohnt hatte, war am öftesten zu spät gekommen. Manche Dinge ändern sich nie, dachte Freund und fragte sich, woran das wohl lag.
Er selbst schwang sich auf sein Fahrrad. Er war froh, dass er damit seit Jahren – bei schönem Wetter – zur Arbeit fuhr. Sonst hätte Claudia diese zugegeben eher gemütliche Bewegung als Konzession an ihren neuerdings ausgebrochenen Bewegungsdrang missverstanden, und er hätte sie bleiben
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