Wienerherz - Kriminalroman
lassen müssen. Du liebe Güte, warum war er in dieser Sache so kindisch?
Mit dem Untersuchungsrichter hatte Freund schon öfter gearbeitet. Er war keiner von denen, die im Justizapparat Karriere machen wollten, oder er spielte es zumindest nicht offensiv. Freund erklärte ihm seine Sicht der Dinge in Sachen Florian Dorin.
Der Untersuchungsrichter studierte nachdenklich die Protokolle aller Beteiligten. Schließlich legte er sie mit einem Seufzer auf seinem überladenen Schreibtisch ab.
»Sehen Sie das?«, fragte er und zeigte auf die Stapel. »Ich weiß nicht mehr, wohin mit der Arbeit. Unsere Regierung ist anscheinend der Ansicht, dass ein Rechtsstaat auch ohne – oder mit zu wenig – Personal funktioniert.«
»Ich dachte, es gab gerade Extramillionen für die Justiz.«
»Medienwirksam verkündet, klammheimlich streicht man uns hintenrum auf Umwegen das Dreifache weg oder macht die Dinge so kompliziert, dass wir zwar ein Prozent mehr Leute bekommen, aber zehn Prozent mehr Arbeit haben.«
Wie bei uns, dachte Freund. Aber für Schwachsinnsaktionen wie Grenzbewachung in einem grenzenlosen Europa war Geld da, weil die Politiker damit Zeichen zu setzen meinten, auch wenn alle Fachleute wussten, dass der Einsatz völlig überflüssig war.
»Da kommen Sie«, sagte der Untersuchungsrichter, »und wollen einen Selbstmord untersuchen.«
»War es ein Selbstmord? Was meinen Sie?«
Freund war längst bewusst, was er tat, und es machte ihn gar nicht glücklich. Er versuchte, die Entscheidung darüber, ob Florian Dorins Tod ein Fall war oder zu den Akten gelegt würde, auf andere abzuschieben. Zuerst hatte er auf die Gerichtsmedizinerin gehofft, die ihn jedoch herb enttäuschte. Canellas Votum verstärkte die Unsicherheit nur. Auch Claudia hatte ihn weder zum einen noch zum anderen ermutigt, das war auch nicht ihre Aufgabe. Und jetzt der Untersuchungsrichter. Wollte sich auch nicht festlegen. Mehrfach schon hatte Freund die Erfahrung gemacht, dass, je lieber er einen leisen Zweifel ignorieren wollte, desto eher ein guter Grund dafür vorhanden war.
Der Untersuchungsrichter betrachtete ihn missmutig durch seine Brille mit dem dicken, dunklen Rand.
»Und Sie?«, fragte er. »Haben Sie nichts zu tun?«
»Schön wär’s«, erwiderte Freund. »Stellen Sie sich eine Welt vor, die keine Kriminalbeamten braucht. Aber so weit sind wir noch nicht.«
»Also«, erklärte sein Gegenüber endlich mit entschlossener Stimme, »wenn es nach mir ginge, würde ich den Deckel über der Geschichte schließen.«
Gegen seinen Willen spürte Freund einen Stich der Enttäuschung in seinem Magen.
»Ich würde gern noch einiges überprüfen«, hörte er sich zu seiner eigenen Überraschung sagen.
Der Untersuchungsrichter seufzte. »Wenn Sie nichts Besseres zu tun haben … Sie müssen wissen, was Sie mit Ihrer Zeit anfangen. Aber zu mir kommen Sie erst wieder, wenn Sie Handfestes haben.«
Nach einer Stunde im Internet hatte Freund einiges über Florian Dorin herausgefunden. Seine Familie spielte seit dem neunzehnten Jahrhundert eine gewichtige Rolle in der österreichischen Wirtschaft. Den Anfang gemacht hatte Alfred Dorin, ein geschäftstüchtiger Chemiker aus Mähren, der ein Unternehmen für Textilveredelung und Metallbehandlung gründete. Im Preußisch-Österreichischen Krieg gehörte er zu den Ausrüstern der habsburgischen Armee und damit, im Gegensatz zum Kaiser, zu den Gewinnern dieser Auseinandersetzung. Am Ende seines Lebens besaß er eine ganze Gruppe von Industrieunternehmen, zu Beginn des zwanzigsten Jahrhunderts führte sein Sohn Claus einen der größten Konzerne der Monarchie. Dazu gehörten Stahlhütten ebenso wie Chemiefabriken, Textilproduktion, Großhandelsunternehmen und eine Bank.
Nach dem Ersten Weltkrieg verlor die Familie Teile ihres Besitzes in den ehemaligen Kronländern, doch mit unternehmerischem Geschick führten Claus und sein Sohn Eduard, Florians Großvater, den Konzern zu alter Größe. Nach dem Zweiten Weltkrieg folgte eine weitere Wiederaufbauphase unter Florians Vater Adalbert, der sich auch in der Industriellenvereinigung engagierte. Wenn Freund richtig verstand, hatte Leopold Dorin die Leitung des Bankhauses übernommen, während die anderen Konzernunternehmen von Familienfremden gesteuert wurden. Dort saßen Leopold und Florian nur in ein paar Aufsichtsräten. Ansonsten schien Florian ein eigenes Unternehmenskonglomerat aufgebaut und geführt zu haben, das mit den ursprünglichen
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