Wienerherz - Kriminalroman
Familienerinnerung spielen soll. Cornelius war nämlich das genaue Gegenteil seines Bruders.«
»Ich habe seine Briefe gelesen«, sagte Freund, »und mich dabei dauernd gefragt, woher der Konflikt mit seiner Familie rührte.«
»Aus dem Krieg. Die letzten zwei Jahre des Ersten Weltkrieges diente er in der kaiserlichen Armee. In dieser Bibliothek hier stehen seine Tagebücher aus dieser Zeit. Er schildert das Grauen an der Front und erkennt, dass dieses Gemetzel nicht nur eine neuerliche Auseinandersetzung europäischer Mächte ist, sondern der erste Schritt in ein neues Zeitalter. Aus dem Krieg kehrt er als überzeugter Republikaner zurück. Obwohl er tatsächlich noch, wie in der Chronik beschrieben, eine Lehre in der Bank und ein Welthandelsstudium absolviert, engagiert er sich bereits im Umfeld der Friedensbewegungen und der Sozialdemokratischen Partei, auch wenn er formal nie Mitglied wurde. Zuerst versuchte er, innerhalb der familiären Unternehmensgruppe Veränderungen durchzusetzen. Dabei kam es wohl zum ersten Zerwürfnis mit seinem Bruder und dem Vater. Sehr zu deren Ärger verwendete er in der Folge Teile seines Vermögens zur finanziellen Unterstützung des linken Lagers. Wäre ich Romancier, hätte ich daraus ein Buch gemacht. Wunderbarer Stoff für ein Drama.«
Freunds Telefon meldete sich. Er wusste sofort, wer es war, und ärgerte sich.
»Entschuldigen Sie bitte einen Augenblick.«
Er entfernte sich, während er das Gespräch annahm.
»Ich habe es nicht vergessen«, log er die Interne Ermittlerin an. »Ich bin hier mitten in einer Befragung. Wir müssen unseren Termin verschieben. Am besten auf nächste Woche.«
»Wann?«, kam es eisig vom anderen Ende.
»Gleich am Montag.«
»Wenn es sein muss.«
»Aber erst am Nachmittag.«
»Vierzehn Uhr. Letzte Chance.«
»Schönes Wochenende.«
Zurück zu Pandell.
»Bitte, fahren Sie fort.«
»Ende der zwanziger Jahre eskalierte die Situation in einer völligen Lossagung von der Familie«, referierte der Professor weiter. »Er war nicht der einzige Sohn aus reichem Haus, der sich den neuen Idealen anschloss. Ab da weiß man tatsächlich nicht mehr viel über ihn. Das wenige, was sein Bruder aber ebenfalls nicht im Buch erwähnt wissen wollte, findet sich in den Briefen an seine Mutter.«
»Faszinierende Zeitdokumente«, bemerkte Freund.
»Allerdings.«
»Ich habe sie vor Jahren einmal durchgesehen, aber nicht wirklich gelesen, weil mir die Schrift zu fremd war«, gestand Tann-Dorin.
»Darin schildert er, dass er ein neuer Mensch geworden sei«, erklärte Pandell, »und eine neue Welt aufbauen wolle. Ein neues Zeitalter sei angebrochen, viel Rhetorik der damaligen Zeit eben. Er lebe jetzt wie ein Arbeiter unter Arbeitern, schaffe Werte mit seinen eigenen Händen und so weiter. Das muss verdammt hart gewesen sein für einen wie ihn, der eine andere Ausbildung hatte. Und das zu einer Zeit der Massenarbeitslosigkeit. In den frühen dreißiger Jahren war in Österreich wie in Deutschland schließlich ein Drittel der Bevölkerung ohne Beschäftigung. Er wollte seine Herkunft ablegen, seine Erziehung, er, der kosmopolitisch aufgewachsene Großbürger, der mehr gemein hatte mit seinesgleichen in London oder Paris, wollte einer jener Wiener sein, deren Welt in Stammersdorf endete. Sogar seinen Namen hatte er abgelegt, was seine Eltern nach den Schilderungen Ihres Großvaters besonders getroffen hat. Nebeneffekt dieser Maßnahme war, dass sie keinen Kontakt mehr zu ihm aufnehmen konnten, weil er den Namen nicht preisgab. Ein interessantes Verhalten, wenn Sie mich fragen. Zwar wollte er die Familie nicht mehr als offiziellen Teil seines Lebens, strebte aber letztlich doch immer danach, ein Teil von ihr zu bleiben, indem er diese Briefe schrieb. Während meiner Recherchen und der Gespräche mit Ihrem Großvater erzählte mir dieser, dass seine Mutter mehrere Versuche unternahm, Cornelius zu finden, dabei aber erfolglos blieb.«
»Woher wussten Sie dann von dem Autounfall?«
Pandell ließ sich mit der Antwort Zeit.
»Es gab nie einen Autounfall«, gestand er endlich.
»Dann starb er womöglich gar nicht?«
»Doch. Aber anders. Seine Familie erfuhr es durch einen reinen Zufall. Ihr Großvater erzählte es nur sehr widerwillig, nachdem ich die Briefe seines Bruders gefunden hatte, die er längst vernichtet glaubte. Ich drohte, die Arbeit zu beenden, die mittlerweile weit fortgeschritten war. Als Bedingung stellte er, dass ich nichts davon ins Buch
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